Samstag, morgens
Ori war tot.
Der Kleine lag reglos hinter der Tür des Hasenstalls.
Die anderen sprangen in Vorfreude auf ihre morgendliche Fütterung hin und her. Die dicke Wilma hoppelte auf Oris Flanke. Dem toten Hasen entwich ein letzter Pups.
Erwin hielt die Luft an. Erst nach vorsichtigem Schnuppern kam er näher, um durch den engen Draht der Tür einen besseren Blick zu bekommen. Komisch. Äußerlich konnte Erwin nichts erkennen.
Dass Hasen sich gegenseitig totbeißen können, darüber stand etwas in einer Ausgabe der Zeitschrift »Mein Haustier«, die er vor ein paar Wochen im Wartezimmer seiner Zahnärztin unter einem Stapel Modejournale herauszog. Den Artikel fand er dermaßen spannend, die Zahnarzthelferin musste Erwin dreimal aufrufen, so sehr war er in die Lektüre vertieft. Vor allem bei Nahrungsknappheit und extremer Unterernährung sollte es vorkommen: Hasenkannibalismus.
Die Vorstellung, seine lieben Hasen könnten Ori getötet haben, war unvorstellbar! Alle Tiere sahen wunderbar rund aus wegen der üppigen Speisekarte! Erwin öffnete die Tür des Stalls, nahm das tote Tier vorsichtig hoch und untersuchte es gründlich. Keine erkennbaren äußere Verletzungen. Sanft drückte er Ori an die Brust. Weich und seidig wie ein Plüschtier. Der schlaffe Körper gab etwas Wärme ab.
Über das Fell streichelnd sagte er leise:
»Du Armer. Was ist denn mit dir passiert?«
Gestern, bei der Versorgung der Hasen kurz vor Sonnenuntergang, hatte der süße Ori zwei Extrakarotten bekommen. Die erste fraß er Erwin gleich aus der Hand. Mit der zweiten verzog sich der Kleine in eine Ecke, um sie in Ruhe zu verzehren. Kerngesund war das Häschen. Kein Wunder bei den vielen Vitaminen.
Der plötzliche Tod war Erwin ein Rätsel. »Wenn Kevin und Miriam davon erfahren, wird es Tränen geben.«
Mit der rechten Hand hielt Erwin das Tier vor den Bauch gedrückt, mit der Linken zog er ein Büschel Stroh unter dem Hasenstall hervor. Sorgfältig breitete er es in der nebenstehenden Schubkarre aus. Den toten Ori legte er auf die weiche Unterlage und betrachtete sein Werk.
»Ein bisschen sieht er aus wie Jesus in seiner Krippe. Fragt sich nur, wer ich bin – Ochs oder Esel?«
Der große, hart und selbstsicher erscheinende Mann konnte auch sentimental sein. Versonnen streichelte er mehrmals über Oris weiches Fell und kraulte den Kopf ein wenig zwischen den schlaff herunterhängenden Löffeln. Dies hatte das Tier besonders gern gemocht. Kevin, der sechsjährige Sohn, war aber der beste Zwischen-den-Ohren-Streichler. Kevins Streicheltalent entlockte Ori Töne, ähnlich dem Schnurren einer Katze. Die schwarzen Äuglein waren bei der Liebkosung weit geöffnet und schimmerten in feuchtem Glanz. Wenn Miriam, seine große Schwester, das Gleiche tun wollte, war er immer zappelig und in Fluchtbereitschaft, weil die Neunjährige sehr rabiat zugriff. Erwin traten Tränen in die Augen, als er daran dachte, wie die Kinder den plötzlichen Tod von Ori aufnehmen würden.
Mit Blick auf die Armbanduhr stellte er fest, dass bis zum Aufstehen der Kinder Zeit blieb. Die Ziffern zeigten erst halb sechs an. Recht früh für einem Samstag mitten im Mai. Gestern Abend hatten die Beiden mit ihren Freunden lange auf der Straße gespielt. Völlig erschöpft fielen sie in die Betten.
Erwin gab den anderen Tieren ihr Futter, füllte die Wasserflasche und befühlte durch die Puma-Jogginghose gedankenlos den lästigen Pickel.
Unsicher befingerte er die infizierte Pobacke. Die Untersuchung erfolgte gründlich. Gerade als Erwin erleichtert eine beginnende Eintrocknung feststellte, ließ ihn das metallene Zuschlagen einer Gartentür einige Häuser entfernt aufschrecken.
Mit hochrotem Kopf blickte er um sich. Gleichzeitig ließ ihn ein Stechen am Herz die Luft anhalten. Die Hand flog aus der Hose zur Brust. Er versuchte, vorsichtig ein- und auszuatmen. Erst langsam, dann mit immer tieferen Atemzügen. Das half. Nur noch ein leises Prickeln war in der Herzgegend zu spüren. Erwin schwitzte in der morgendlichen Kühle.
Der Termin beim Internisten stand für übernächsten Mittwoch fest. Nach dem ersten Ereignis Anfang Januar war dies der dritte Anfall innerhalb eines halben Jahres. Langsam bekam er Angst.
»Wenn es kommt, dann aber dicke!« dachte er.
Erst das Herzproblem, danach der Pickel am Po, jetzt der tote Ori. Das hätte ihm noch gefehlt, beim Herumfummeln am Hintern erwischt zu werden! Mindestens zwei Nachbarn hatten einen guten Einblick in seinen Garten. Davor hatte ihn Frau Kilian hoffentlich rechtzeitig bewahrt.
Die schwergewichtige Zeitungsausträgerin übte ihre frühmorgendliche Tätigkeit alles andere als rücksichtvoll aus. Der Lärm, den die Müllwerker alle vierzehn Tage machten, war nichts im Vergleich zu dem Krach, mit dem Frau Kilian in ihrem Austragbezirk unterwegs war. Die Zeitungen transportierte sie in einem Fahrradanhänger, den sie hinter sich her zog. Wenn sie schlurfend eine Zustelladresse erreichte, glitt ihr immer die Deichsel des Karrens aus der Hand. Der Anhänger schlug scheppernd mit der Vorderkante auf das Straßenpflaster.
Erwins Freund Horst, der zwei Straßen weiter wohnte, regte das kaum auf.
»Besser wie ein Wecker mit Schlummerfunktion«, hatte er Erwin erklärt. Eine halbe Stunde dauerte es vom ersten krachenden Aufsetzen des Anhängers bei Erwin im Tulpenweg bis zum Finale vor Horsts Haustür in der Brüder-Grimm-Straße. Dreizehn Abonnenten, dreizehn Rappelschläge, einer lauter als der andere. Dann war Zeit zum Aufstehen.
Nebentöne, wie das Zuknallen von Gartentüren und Briefkastendeckeln, vervollständigten das Klangereignis, das Frau Kilian den Dorfbewohnern jeden Morgen, außer Sonntags, bescherte.
Erwin blickte zu den Nachbarhäusern. Bei allen Fenstern, von denen aus der Garten einsehbar war, deuteten die geschlossenen Rollos auf tiefen Schlaf der Hausbewohner hin. Das war beruhigend. Gegenüber seinem ungeliebten Nachbarn, dem widerlichen Stinkstiefel Hartmut Hass, wollte Erwin sich keine Blöße geben. Wie konnte er nur so leichtsinnig sein! Wenn der Hass das beobachtet hätte! Jedes fiese Grinsen dieses Widerlings könnte ab jetzt: ›Ich habe gesehen, was du getan hast‹ bedeuten. Das Gespött der Nachbarschaft wäre ihm sicher. Der Hass war richtig gut im Leute-gegeneinander-aufhetzen.
Erwin seufzte. Immer den Anstand wahren zu müssen, selbst auf dem eigenen Grundstück, empfand er als anstrengend. Zum Glück wuchs in der südöstlichen Gartenecke, neben dem Hasenstall, eine kleine Gruppe Haselsträucher. Ein schönes Versteck, in dem der Frühaufsteher nach dem Versorgen der Hasen, hin und wieder seinen Morgenurin abschlug. Die Brennnesseln wuchsen üppig. An Regentagen roch es ein wenig wie Salmiak. Niemand ahnte bisher das Geheimnis. So sollte es bleiben.
Der Ori. Der war in der Aufregung völlig in Vergessenheit geraten. In der großen Gartenschubkarre sah der Hase recht mickrig aus. Obwohl Erwin sich Mühe gegeben hatte, die Hasenleiche stilvoll auf die Strohunterlage zu legen, gab er keinen schönen Anblick ab.
»So kann das nicht bleiben! Der muss später beerdigt werden. Dafür brauche ich einen Sarg.«
Er ließ die Karre stehen. Zunächst ging er auf der Suche nach passendem Material für den Hasensarg in die Garage. Das Wandregal enthielt jede Menge Kisten. Alle voller wichtiger Sachen wie Schrauben, Farben und Utensilien zur Wagen- und Gartenpflege. Aber obenauf in der offenen Altpapiertonne lag ein Schuhkarton. Prüfend nahm er die Schachtel heraus. Die Pappe sah stabil aus. Neugierig schaute er auf das Markenzeichen: Wanderschuhe von Luigi Askari, Größe 38.
Erwin wunderte sich über den Fund. Üblicherweise warf Marga solche Dinge einfach aus der Küche durch die Verbindungstür zur Garage. Ordentliches Wegräumen überließ sie gern ihrem Mann, der darüber nie ein Wort verlor.
»Seltsam. Was ist denn mit der los? Hat sie ein schlechtes Gewissen oder will sie was Bestimmtes von mir?« Beinahe wären seine Gedanken in etwas sexuelles abgerutscht.
In einem Anflug kreativer Inspiration stieg er die Treppe zum im Keller hinab. Dort unten hoffte er Besseres als den Schuhkarton zu finden. Die einfache Pappschachtel schien ihm als Sarg für den kleinen Ori sehr einfallslos. Eine stabile kleine Holzkiste wäre gut.
Als Erstes fielen ihm die neuen Flaschen im Weinregal auf. Also war sie gestern nicht nur wegen der Schuhe einkaufen. Enttäuscht wanderte sein Blick weiter auf die in der Ecke stehende Bierkiste. Ein einsames ungeöffnetes Fläschchen inmitten vieler geleerten. Erwin weitete die Augen. Blinzelte der Kronkorken ihm gerade zu? Kurz überlegte er, die Flasche Bier sofort hinunterzustürzen. Vielleicht könnte er mit ein wenig Alkohol das nachher zu erwartende Geheule der Kinder besser verkraften?
»Nein. Es reicht, wenn die Alte trinkt!«
Wer weiß, wieviel ehelicher Frust nach 15 Ehejahren in diesem Satz, heimlich und ungehört im Keller hervorgestoßen, aus ihm herausbrach? Tatsächlich war Margas Alkoholgenuss moderat. Eine Kiste Wein mit 6 Flaschen reichte ihr fast vier Wochen. Erwin trank fast nichts. Diese Kiste Bier stand seit Silvester unverändert.
Es war keine Holzkiste da. Statt dessen sah Erwin zwischen den eingemachten Marmeladengläsern 2 Kisten mit ihm unbekannten Inhalt. Erwartungsvoll zog er die erste aus dem Regal. Klasse! Darin war der Christbaumschmuck, in der anderen gebrauchtes Geschenkpapier.
Die Schuhschachtel wurde zu einem schönen Hasensarg. In der Werkstatt beklebte er den Karton mit dunkelblauem Geschenkpapier. Ein Stück silbriges Kreppband, gefunden in der Kiste mit den Weihnachtskugeln, band er zu einer Schleife und klebte sie auf den Sargdeckel. Den mittlerweile leichenstarren Ori legte Erwin auf den mit Stroh ausgelegten Kartonboden.
»Die Augen sind ja noch offen«, sagte er leise.
»Na, das dürfen nachher die Kinder machen!«
Margas übliche Zeit aufzustehen kam näher. Erwin schob den Sarg in ein Regal, ging in die Küche und deckte den Frühstückstisch. Eine erste Tasse Kaffee schlürfend, las er die Tageszeitung.
»Morgen, Schatz!«
Marga stand im Bademantel hinter ihm, gähnte ausgiebig und küsste seinen Nacken.
»Gut geschlafen, Erwin? Du bist so früh aufgestanden.«
Verschlafen nahm sie gegenüber von ihm am Tisch Platz und füllte ihre Tasse. Halbgeöffnete Augen blickten zu dem Subjekt ihrer Begierde.
»Weißt du, woran ich denke?« Sie sprach leise und seltsam tonlos.
Erwin beugte den Oberkörper nach vorn, vorgeblich, um einen Artikel besser lesen zu können. Der sinnliche Klang der Frage versetzte ihn in Alarmbereitschaft. Den dazugehörigen Gesichtsausdruck kannte er zur Genüge und er hasste ihn. Margas feuchte Zunge fuhr über die Lippen. Ihr Blick war sinnlich trübe, fast verklärt.
»Bevor unsere Kinder kamen, sind wir am Wochenende manchmal kaum aus dem Bett gekommen.«
Erwin lehnte sich zurück und blickte von seiner Zeitung auf. Wenn er sie jetzt ignorierte, könnte sie ihm das Wochenende zur Hölle machen. Das war nichts Neues.
»Bitte nicht schon wieder!« dachte er.
Die Lust auf diese Frau war ihm abhanden gekommen. Die Lust auf jede Frau. Einmal fragte er sich, ob er latent schwul sei, doch Gier auf Männer war ihm fremd. Er hatte es einfach satt: das ganze Gemache mit Bumsen, Wichsen und so. Hin und wieder in den Morgenstunden ein spontaner Samenerguss war Beweis für das Funktionieren der biologischen Grundfunktionenen. Seine Asexualität war ihm zwar unerklärlich, er akzeptierte sie aber problemlos. Marga wusste darüber Bescheid. Trotzdem musste sie wegen der eigenen Sehnsucht ihren Kerl manchmal auf die Probe stellen. Eine schwierige und anstrengende Situation. Glücklicherweise beanspruchten die Kinder so viel Zeit der Eltern, dass die Gegensätzlichkeit der Ehepartner im Hintergrund schwelte. Meistens. Heute morgen nicht.
»Mami, der Kevin hat Tusse zu mir gesagt!«
Erwin stand ruckartig vom Tisch auf, froh über die willkommene Störung. Miriam kam die letzten Stufen der Treppe hinunter und stürzte in seine offenen Arme. Marga presste enttäuscht die Lippen aufeinander.
»Wo ist der Kevin? Ist er in seinem Zimmer?«
Erwin streichelte seiner Tochter das Haar.
»Ich rede gleich mit ihm. So etwas soll er nicht sagen. Obwohl…«
Schmunzelnd nahm er ihren Kopf in die Hände.
»Wenn du wirklich eine Tussi bist, dann jedenfalls eine sehr süße!«
»Papi!«
Lachend zog er sie an den Tisch.
»Komm, iss erst mal was.«
Plötzlich fiel ihm Ori ein. Die gute Laune war weg.
»Übrigens…ich war heute Morgen schon am Hasenstall und…«
Misstrauisch wurde er von Frau und Tochter beobachtet.
»Mein Gott!«, dachte Erwin. »Ist das schwer!«
Vorsichtig fuhr er fort:
»Als ich die Tür öffnete, fiel mir gleich auf, dass was komisch war. Die Hasen hoppelten alle so aufgeregt herum, und dann sah ich auch den Grund. Der Ori war gestorben.«
»Nein!« schrie Miriam.
»Ori kann nicht sterben! Du hast gesagt, das ist unser Hase, der wird nicht gegessen! Du Lügner!«
Dicke Tränen liefen und sie trat nach seinen Schienbeinen.
»Miriam! Ich habe keine Ahnung, warum der Ori tot ist. Ich bin unschuldig. Gestern hat er schöne Karotten für die Nacht bekommen, da ging es ihm sehr gut. Vielleicht hat er einfach einen Herzinfarkt bekommen. Das kann passieren.«
»Das sage ich Kevin!«
Miriam lief auf die Treppe zu, um ihren Bruder zu wecken. Doch Kevin stand bereits oben.
»Was ist denn das für ein Krach? Ich wollte noch ein bisschen schlafen!«
»Kevin! Der Ori ist tot!«
Miriams Schrei war so laut, dass er vermutlich in der ganzen Siedlung zu hören war.
»Nein!«
Kevins Schrei gellte in der Küche.
»Doch!«
Erwins lauter Ausruf war wie ein Donnerschlag.
»Meint ihr, ich mache mit so was Spaß? Kommt, ich zeige ihn euch!«
Die Kinder und Marga folgten ihm in die Garage. Erwin nahm den Hasensarg aus dem Regal.
»Ist er da drin?«
Miriams Stimme war ein leises Flüstern.
Ihr Vater nickte. Zusammen brachten sie den Karton in die Küche. Vorsichtig stellte Erwin ihn auf der Tischplatte ab. Die Familie stand ehrfürchtig um den Tisch und sah gespannt zu, wie er den Deckel hob. Beim Anblick des toten Hasen fingen die Kinder gleich wieder an zu heulen. Marga zog Erwin zur Seite.
»Sag« mal…das ist doch der Schuhkarton von meinen Wanderschuhen? Das hast du aber gut gemacht!«
Stolz küsste sie Erwin auf den Mund. Schmunzelnd sagte sie:
»Du zeigst ja versteckte Qualitäten! Der Sarg ist so schön! Ich hätte nie gedacht, dass du zu so was fähig bist.«
Das Lob geschmeichelte Erwin. Er wurde rot und seine Körperhaltung straffte sich. Er war Tarzan, der Jane aus einer lebensgefährlichen Situation befreite und dafür die Belohnung bekommt – durch die Art, wie sie ihn ansieht.
Inzwischen hatten Kevin und Miriam den Ori aus der Kiste genommen und ordentlich abgeknutscht. Das Ergebnis war ein nasses, von ihren Tränen verklebtes Fellbündel. Ori sah aus, als wäre er versehentlich in der Waschmaschine mitgewaschen worden.
»Kommt, wir rubbeln ihn ein wenig ab und bringen ihn in den Garten!«
Resolut nahm Marga die Sache in die Hand.
»Der Papa kann ja schon mal ein schönes Grab für ihn ausheben! Miriam, sei so lieb und hol den Föhn aus dem Bad. Damit kriegen wir ihn bestimmt ganz schnell trocken.«
Während seine Frau und die Kinder Ori hübsch machten, nahm Erwin einen Spaten und ging in den Garten. Suchend sah er sich nach einem guten Platz für die letzte Ruhestätte von Ori um. Die beste Wahl wäre die Pinkelecke. Davon kam er sofort ab, da er sie liebend gern noch ein wenig nutzten wollte.
»Auf ein Grab pinkeln macht man nicht.«
Dort drüben: die Hecke zu seinem widerlichen Nachbarn Hartmut Hass. Das könnte gehen.
Der hieß mit Nachnamen nicht wirklich Hass, sondern Hasenfuß. Seit einigen Nachbarstreitigkeiten hatte Erwin, insgeheim den Nachnamen auf »Hass« reduziert. Einmal entfiel ihm der Name in Gegenwart seiner Kinder.
»Der Hass hat wieder …« Mit vielen verbalen Verrenkungen war es ihm gelungen, die Kinder abzulenken.
An der Ligusterhecke grub er ein kleines Loch. Sicherheitshalber schaute er mehrmals zum Nachbarhaus hinüber. Sicher schlief der Hass noch. So fies wie der drauf war, könnte er gewaltig Ärger machen, wenn er rausbekam, dass unmittelbar an seiner Grenze ein Tierkadaver verbuddelt war.
»Soll er doch. Und von wegen: Tierkadaver«, dachte Erwin.
»Das wird eine richtig schöne Beerdigung für den lieben Ori!«
In der Kücher sah es aus wie beim Friseur. Überall flogen Fellflusen herum.
»Guck mal, Papa! Der Ori sieht sooo süß aus!«
Miriam zog ihren Vater zum Küchentisch. Erwin war überrascht, wie lebendig und flauschig der Ori aussah. Nur den an trüben Augen war der Tod zu erkennen. Die Unterlage aus weißer Watte ließ in ihm das Bild eines im Wolkenhimmel schlafenden Ori entstehen.
»Wer hat den schönen Kranz aus Gänseblümchen geknüpft?« Erwin bewunderte die Blumenkette um Oris Hals. Kevin bekam einen roten Kopf.
»Das hast du gut gemacht. Beide habt ihr das gut gemacht. Es ist ein schönes Himmelbett geworden! «, lobte Erwin. »Jetzt ist aber die Zeit gekommen, uns von Ori zu verabschieden. Wer will dem Ori die Augen schließen? Er soll doch so aussehen, als würde er nur schlafen, wenn er in den Hasenhimmel kommt. Kevin?«
Unter Tränen schüttelte Kevin den Kopf.
»Darf ich das machen?«
Marga trat näher an den Tisch. Niemand widersprach. Liebevoll strich sie mit der Hand die Augenlider herunter. Als sie die Hand wegnahm und der Hasenkopf wieder sichtbar wurde, sah es so aus, als ob sich das Häschen, müde vom vielen Hoppeln, kurz für ein kleines Nickerchen hingelegt hätte. Allerdings fing er an, etwas aufdringlich zu riechen. Es war ein Duft, vom Grundton wie ein Karnickelfurz, jedoch blumiger, süßlicher. Der beginnende Geruch der Verwesung.
Erwin legte den Deckel auf den Karton.
»Wir müssen ihn noch zunageln!« meinte Kevin. »Das hab« ich mal im Fernsehen geguckt, dass man das macht!«
Bevor Marga überlegen konnte, welche Sendung es gewesen sein könnte, sagte Erwin: »Das wird mit der Pappe nicht gehen. Ich hole mal den Tacker aus der Werkstatt.«
Die Beerdigung wurde sehr schön. Wie im richtigen Leben ging die Familie mit langsamen Schritten über die Terrasse und den Rasen zu der vorbereiteten Grabstätte. Kevin und Miriam waren die Sargträger. Der fleißige Vater musste ein wenig nacharbeiten, weil das Loch viel zu klein war. Zuletzt durfte jeder mit einer kleinen Schaufel etwas Erde auf den Deckel werfen und einen letzten Gruß an das Tier richten.
»Nachher bauen wir ein schönes Kreuz für ihn, ja?«
Marga sah Erwin fragend an. Der zuckte nur die Schultern. So ein Gebilde wäre ein deutliches Signal für den Hass. Aber was sollte er machen?
»Vielleicht reichen ja auch ein paar Blumen?«
»Nein, Erwin, das reicht nicht. Die Pflanzen verwelken, doch ein Kreuz wird uns lange an den lieben Ori erinnern«, sagte Marga bestimmt.
»Ja, Papi, komm, wir fangen gleich an!«
Miriam nahm seine Hand und zog ihn zurück zum Haus.
»Langsam!« mahnte Erwin.
»Lasst uns erst einmal frühstücken. Ich habe wegen dem Ori fast nichts gegessen. Haben wir Nougatcreme in der Speisekammer?«
Später am Tag schmückte ein schlichtes Holzkreuz den kleinen Erdhügel an der Nachbargrenze. Auf der Querlatte stand, mit einem Lötkolben eingraviert: »Ori 21.5.2016«.
Sonntag, morgens
»Bronko! Komm sofort hierher!«
Hartmut lief auf dem feuchten Rasen auf den kleinen Terrier zu.
»Was hast du denn da? Gib das sofort her!«
Erschrocken über seine laute Stimme blickte Hartmut zum Nachbarhaus. Es war Sonntagmorgen, kaum 7 Uhr. Bestimmt schliefen alle Nachbarn noch. Hartmut wollte auf keinen Fall wegen morgendlichem Geschrei Ärger bekommen. Die nervliche Belastung durch die intime Enge der Wohnsiedlung machte ihm sehr zu schaffen.
Vom Leben auf dem Land hatte er sich mehr versprochen. Aufgewachsen in der Großstadt, war seine frühere Vorstellung vom Dorfleben ein Ideal. Freiheit, Weite, Abenteuer. Die Realität sah anders aus. In dieser Wohnsiedlung am Rand von Jesberg, einer kleinen Gemeinde zwischen Kassel und Marburg, konnte er niemals heimlich eine Stange Wasser hinter dem Haus abstellen. Oder am Hintern kratzen. Aus mindestens 5 Häusern heraus lauerten die lästigen Nachbarn auf so eine Gelegenheit.
Hartmut war der geborene Miesepeter. Immer unzufrieden. Mit sich, mit seiner Umgebung. Statt Freude am Erbe seines Onkels zu haben, haderte er oft mit seinem Schicksal.
›Not enough room to swing a cat!‹
Der Spruch aus einem Comic des berühmten amerikanischen Zeichners Robert Crumb fiel ihm immer ein, wenn er an diese unglückliche Situation dachte.
»So einen Hasenstall wie der doofe Erwin müsste ich haben«, überlegte er.
»Dahinter lässt sich bestimmt gut abstrullern. Das kann niemand sehen.«
Neidisch blickte er zum Nachbargrundstück.
Eine kalte Berührung am Fuß riss ihn aus den Gedanken.
Bronko saß schwanzwedelnd und hechelnd vor ihm. Die Beute lag auf Hartmuts nacktem Fußrücken. In einer spontanen Reaktion schleuderte er das scheußliche Etwas weit weg. Dabei rutschte der andere Fuß auf dem nassen Rasen aus. Hartmut beobachtete im Sitzen den Flug des seltsamen Dinges. Bronko flitzte hinterher. Wahnsinn! Der Hund rann extrem schnell, berechnete die Flugbahn. Rechtzeitig saß er vor dem Gartenzaun und sperrte das Maul auf, um das Ding zu fangen. Hartmut entfuhr fast ein Jubelschrei, so sehr begeisterte ihn die Leistung des kleinen Hundes. Langsam versuchte er aufzustehen. Auf allen Vieren kniete er im Gras, als Bronko seine Beute dicht vor Hartmuts Gesicht hin und her schüttelte. Die Besudelung mit ekligen Säften und feuchten Erdbrocken ließ ihn würgen.
Mühsam rappelte er sich hoch.
»Zeig, Bronko! Nein, lass los!«
Hartmut betrachtete die Beute des Hundes genauer. Eindeutig ein Hasenkadaver. Mit richtig viel Dreck am Balg. Wo könnte der Terrier das Ding ausgebuddelt haben? Bestimmt bei dem einzigen Karnickelhalter in der Siedlung, dem bescheuerten Nachbarn Erwin Klingelhöfer! Hartmut nahm dem Hund mit zwei spitzen Fingern den Kadaver ab und trug ihn mit ausgestreckten Arm auf die Terrasse neben den Grill. Hier waren die teuren Betonplatten durch Fettspritzer total versaut. Da kam es auf ein paar Flecken mehr nicht drauf an. Bronko sprang aufgeregt um ihn herum und wollte sich auf den Kadaver stürzen. Hartmut stülpte einen Eimer darüber und lenkte den Hund mit dem Wegwerfen seines Lieblingsbällchens ab. Während der Hund glücklich mit dem Ball spielte, schritt Hartmut prüfend die Grundstücksgrenze ab. Da, hinter der Ligusterhecke: Aufgewühlter Rasen! Daneben ein primitiv konstruiertes kleines Holzkreuz!
»Alle Achtung!«, dachte Hartmut.
»Gibt es jetzt einen Tierfriedhof in der Siedlung? Der hat eine richtige Macke, der Erwin. Wie bescheuert ist das denn, irgendein Karnickel gleich neben meinem Grundstück zu verbuddeln. Der weiß doch genau, wie empfindlich ich auf solche Verstöße gegen die guten Sitten und die Missachtung der gesetzlichen Vorschriften reagiere. Wenn ich ihn anzeige, wandert er in den Knast!«
Er brachte Bronko ins Haus. Im Arbeitszimmer setzte sich Hartmut an den Computer, um einen Brief an den Bürgermeister zu schreiben. Ungeduldig trommelten die Fingerspitzen auf die Tischplatte, bis der alte Rechner Betriebsbereitschaft anzeigte. Eine knappe Viertelstunde flogen die Finger über die Tastatur. Beim Buchstabieren des Wortes »Kadaver« bekam er Schwierigkeiten – und eine gute Idee! Eilig ging er auf die Terrasse.
Der tote Hase kam im Eimer in die Küche. Über den Küchentisch breitete er Plastikfolie und legte die Hasenleiche darauf. Sie stank fürchterlich.
Mit einer Wäscheklammer auf der Nase ging es ans Werk. Eine Stunde und zwei Schnäpse später lief er um den Tisch und bestaunte das Ergebnis von allen Seiten. Der Hase sah aus wie das blühende Leben. Gewaschen, getrocknet, gebürstet, gekämmt. Mit dünnem, fast unsichtbarem Gartendraht versteift, hockte der Hase auf den Hinterläufen und machte »Männchen«. Nur die offenen, trüben Augen passten nicht zu dem Gesamtbild karnickeltypischer Vitalität. Aber sonst… Hartmut war verdammt stolz auf sich.
Gut gelaunt summte er ein Liedchen und peilte von der Terrasse aus die Lage. Draußen war alles ruhig. Sonntags kam sein Nachbar selten vor 9 Uhr aus dem Haus um seine Hasen zu versorgen.
»No risk, no fun!«
Hartmut schnappte den Hasen vom Küchentisch. Kritisch sah er der Leiche in die toten Augen. Wo waren denn die LED-Leuchten der kaputten Kerzenkette?
Sonntag, vormittags
Verschlafen bemühte Erwin sich aus dem Schlafzimmer in die Küche. Was war das Gestern für ein beschissener Tag! Erst der tote Ori, dann die deswegen traurigen Kinder, die den ganzen Tag richtig genervt hatten, abends eine weintrunkene Marga, die ihm die Ohren wegen seiner Nichterfüllung ehelicher Pflichten vollheulte. Vor lauter Frust hatte er bis in die Nacht diverse Horrorfilme gesehen. Gegen seine Gewohnheit trank er 3 Flaschen Bier aus einem Sixpack von der Tankstelle. Ungewöhnlich spät war er an diesem Sonntagmorgen aufgestanden. Mittlerweile musste es mindestens 10 Uhr sein. Im Haus war es ruhig.
Mit einer Tasse Kaffee ging er in den sonnendurchfluteten Garten, um die Kaninchen zu füttern. Von der Terrasse aus sah er die Tiere aufgeregt sein Kommen erwarten. Es war richtig Stimmung in der Bude.
»Wenn heute wieder einer über Nacht verreckt ist, falle ich tot um«, sprach er leise vor sich hin, als er sich dem Hasenstall näherte.
Beim Anblick des wiederauferstandenen Ori, der gleich hinter der Maschendrahttür hockte, das Mäulchen anklagend aufgesperrt, die gelben Schneidezähne gebleckt, die Augen grell blitzend, verengte sich seine Brust.
Nach einem schnellen Seitenblick zu Oris Grab – es sah aus wie von innen heraus aufgebrochen – kam der zweite und letzte kalte Griff an das Herz. Beim Aufschlag seines schweren Körpers auf den Boden hatte ihn das Leben bereits verlassen.