Waschbär

„Vollidiot!” Wütend trennte Irene die Verbindung und warf ihr Smartphone auf den Beifahrersitz. Es landete in einem Sammelsurium von Dingen, die das Autofahren angenehmer machen oder es überhaupt erst ermöglichen. Keksschachteln, volle Getränkedosen, leere Getränkedosen, eine Sonnenbrille, Kleenextücher, eine kleine, ramponierte Stoffpuppe die einmal Pippi Langstrumpf war und 15 Jahre als Maskottchen am Innenrückspiegel hing, bevor das Aufhängeband riss. “So ein blöder Vollidiot!”. Irene steigerte sich immer mehr in Wut über ihren dummen Bruder. Während sie mit Tempo 120 in ihrem alten Toyota Corolla in die Abenddämmerung zwischen Fritzlar und Borken raste, schimpfte sie lauthals weiter und ließ lang aufgestaute Wut heraus. “Drecksack, Hurenbock, verlogenes Arschloch!” Eine kurze Pause, dann brüllte sie, so laut sie konnte: “Kinderschääändeer!” Der Corolla flitzte weiter in Richtung Borken. Vereinzelt klatschen die ersten Nachtfalter an die Windschutzscheibe. Über den Kuppen des Kellerwaldes war noch ein orangeroter schmaler Streifen von Wolken reflektiertes Licht der untergegangenen Sonne zu sehen. Doch Irene ließ sich dadurch nicht von ihrer Wut ablenken. Auch nicht von der Konzentration beim Autofahren. Immer beide Hände am Steuer, immer den Blick auf die Fahrbahn geradeaus, regelmäßige Kontrollen des rückwärtigen Verkehrs durch Innen- und beide Außenspiegel. Festes, den ganzen Fuß umschließendes Schuhwerk, immer die richtige Brille für alle Helligkeitsverhältnisse. Wagenpflege, Werkstattintervalle, alles war bei ihr Routine und reine Selbstverständlichkeit. Die perfekte Autofahrerin. 40, Lehrerin an der Ursulinenschule in Fritzlar. Keine Kinder. Keinen Mann. Eltern tot. Zwei Brüder. Der eine das Arschloch, mit dem sie gerade telefoniert hatte, der andere seit ewigen Zeiten in Australien. Auch ein Arschloch.

Ein nahezu beiläufiger Blick auf den Geschwindigkeitsmesser vesetzte ihr beinahe einen Schock. 132 Stundenkilometer! Auf einer Landstraße! Schlagartig war ihre Wut auf den verhassten Bruder verflogen und als Ursache für ihr Fehlverhalten ausgemacht. Schnelles Hinunterschalten in den 4. Gang, kurzes Antippen des Bremspedals: Fehler korrigiert. Mit exakt 100 Stundenkilometern ging es weiter. Den Wagen, der mit ebenfalls überhöhter Geschwindigkeit seit einem Kilometer fast an ihrer Stoßstange klebte, hatte sie dabei die ganze Zeit voll im Blick. Der schwarze BMW reagierte souverän: er hatte nur kurz abgebremst, dann runtergeschaltet und zog im dritten Gang bei Vollgas hupend an Irene vorbei.

“Arschloch!” kommentierte Irene kurz und knapp dieses Verhalten. Von solchen Idioten ließ sie sich beim Autofahren schon lange nicht mehr aus der Ruhe bringen. Während sie in angemessenem Tempo dem BMW folgte, versuchte sie zu überlegen, wie es geschehen konnte, dass sie eben die vorgeschriebene Höchstgeschwindigkeit überschritten hatte. Mit einem Mal realisierte sie, dass sie während der Autofahrt mit dem Handy telefoniert hatte. Ohne Freisprecheinrichtung! Ein schneller Blick auf den Beifahrersitz bestätigte ihre Erinnerung. Unter einer halbleeren Keksschachtel schaute zur Hälfte ihr Handy hervor. Das Display war noch erleuchtet, was bedeutete, dass seit der letzten Aktivität noch keine 60 Sekunden vergangen waren. “Ich glaube, ich brauche Urlaub”, murmelte sie und richtete ihren Blick wieder auf die Fahrbahn. Kaum dass sie sich binnen einem Sekundenbruchteil über die aktuelle Fahrsituation informiert hatte – der kurze Blick zum Handy hatte nicht zu einer Spurabweichung geführt – entspannte sie sich, seufzte tief und lockerte bewusst ihre Oberkörpermuskulatur. Mit einer gut eingeübten Bewegung hob sie zur Entlastung den Hintern ganz kurz aus dem Sitz um ihn gleich wieder leicht kreisend im Sitz zu versenken. Zufrieden spürte sie, wie wieder leicht prickelnd Blut in den Gefäßen zirkulierte.

Den dunklen Schatten, der plötzlich aus dem Gebüsch von rechts auf die Straße schoss, sah sie zu spät, um noch reagieren zu können. Ein dumpfer Schlag erschütterte den Wagen. Schon vollführte sie eine Vollbremsung, doch ihr war klar, es war zu spät, viel zu spät.

Noch bevor der Wagen stand, hatte Irene schon die Warnblinkanlage eingeschaltet. Nun sprang sie aus dem Auto und lief auf der Fahrbahn zurück. Die Straße war völlig leer. Bis auf Irene, deren Wagen und das Fellknäuel, das 30 Meter zurück in der Mitte der Fahrbahn lag. Als Irene das Tier erreichte, konnte sie gerade noch erahnen, dass es ein Waschbär war, da entknäuelte sich das Fell. Mit einem lauten Schrei, der Irene ein Schaudern den Rücken hinunterlaufen ließ, richtete sich das Tier auf und war mit drei, vier Hopsern auf der anderen Straßenseite und sofort durch das dichte Strauchwerk ihrem Blick verborgen. Sie hatte nur noch erkennen können, dass das Tier einen Hinterlauf hinter sich herzog. Ohne Taschenlampe konnte sie in der mittlerweile fast vollständigen Dunkelheit nichts erkennen. Zurück zum Auto, nahm sie ihr Handy und schaltete die Taschenlampenfunktion ein. „Lieber Herrgott im Himmel, sei mir gnädig. Hoffentlich ist nichts kaputt!“ Die Sorge um ihr Auto hatte jetzt, wo sie sich nicht um das arme, verletzte Tier kümmern konnte, Vorrang. An der linken Stoßstange sah sie einen Blutfleck, daran klebend ein Büschel grauweißer Haare. Zuerst wollte sie spontan das eklige Zeug mit einem fetten Grasbüschel, den sie schon vom Straßenrand abgerissen hatte, wegwischen. Gerade noch rechtzeitig fiel ihr ein, dass dies als Beweis für die Polizei noch dranbleiben musste. Dreimal fotografierte sie die Sauerei und kontrollierte das Ergebnis. Sicherheitshalber leuchtete sie nochmal die ganze Front des Toyota ab. Es war kein Schaden zu erkennen. „Das ist wirklich noch Qualität!“, dachte sie. Von hinten, aus ihrer Fahrtrichtung, näherten sich mehrere Scheinwerferpaare. „Ich muss die Unfallstelle absichern!“, überlegte sie. „Das Warnblinklicht allein reicht nicht.“ Sie überlegte, wo sie beim letzten Aufräumen des Toyotas das Warndreieck verstaut hatte. Genau in dem Moment, als es ihr einfiel, sah sie den einmündenden asphaltierten Feldweg, kaum 15 Meter entfernt im Licht des Scheinwerferpaares. „Da fahre ich rein, dann bin ich von der Straße.“ Schon heulte der Motor auf und der Wagen machte einen Satz nach vorn. Schnell bugsierte Irene das Fahrzeug in den Feldweg und hielt dann gleich wieder an. Die Warnblinkanlage stellte sie ab. In diesem Moment schossen 3 oder 4 schnelle Wagen an der Unfallstelle vorbei. „Puh, das war knapp“, dachte sie. „Warum habe ich nur das Warndreieck meinem bescheuerten Bruder geliehen, zusammen mit dem Reserverkanister und dem Verbandskasten!“ Das war nämlich der Grund, vielmehr 3 Gründe von einer ganzen Menge mehr, weshalb sie vor dem Zusammenstoß mit dem Waschbär ihren Bruder so lauthals beschimpft hatte. Der Kerl hatte sie ernsthaft aufgefordert, sie solle sich diese Utensilien, die er sich nur für heute für die Vorstellung beim TÜ mit seinem aufwändig restaurierten Porsche 911 Carrera, Baujahr 1968, von ihr ausgeliehen hatte, einfach neu kaufen. Er wäre glücklich, die Sachen jetzt in seinem Besitz zu haben und könne sich eine eigene Anschaffung gerade sowieso nicht leisten. Außerdem wolle er heute Abend noch nach Hamburg, um in Hamburg den bei seiner geschiedenen Frau lebenden 9-jährigen Sohn Alfred zu besuchen. Überdies sei Irene eine reiche Schnepfe, die ihr ganzes leicht verdientes Geld den Banken in den Rachen werfe, wogegen er ein armer Hund sei, arbeitslos, arbeitsscheu und drogensüchtig, den sie ruhig öfter mal unterstützen könne. „Blöde Sau. Fick dich selber. Arschgesicht und Mutterschänder!“ Wenn sie sich allein wähnte, geschah es besonders nach langen, anstrengenden Arbeitstagen, dass sie sich den ganzen Ärger, der sich in ihr in der Schule aufstaute, auf diese Weise abbaute. Dort war sie immer die nette, souveräne und selbstsichere Lehrerin, total verklemmt in ihren Ansichten, was sich auch in ihrer biederen Kleidung ausdrückte. Nicht, dass sie gern genauso luderhaft und leichtlebig wie die meisten ihrer Kolleginnen und vor allem ihrer älteren Schülerinnen gewesen wäre. Nein, das nicht. Sie stand zu ihrer konservativen, fast schon reaktionärer Lebenseinstellung. Nur – es war so furchtbar anstrengend, dies in der heutigen, sündenvollen Zeit zu sein. Immer angefeindet von respektlosen Schülern und – ja – auch Kolleginnen und Kollegen. Da hatte sie mal bei einem Wochenendseminar über Stressabbau einen guten Tipp bekommen: „Lassen Sie die Sau einfach mal raus! Wenn Sie sich nicht trauen, das in der Öffentlichkeit zu machen, tun Sie es einfach heimlich, wenn sie allein sind und stellen sich vor, die ganze Welt kann Sie hören. Das geht auch im Auto. Wer hört Sie schon, wenn sie Ihren Urschrei herauslassen?“ Seitdem, seit etwa einem halben Jahr, probierte sie das immer öfter aus, weil sie merkte, dass es wirklich half. Gestern hatte sie sogar schon mal daran gedacht, sich beim Autofahren die Muschi zu streicheln und sich dabei vorzustellen, wie ihr ekelhaft jugendlicher und kräftiger Lehrerkollege, der Herr Finster, ihr dies als imaginärer Beifahrer besorgt. Ja, sie machte eindeutig Fortschritte in ihrer Art der Stressbewältigung!

Nun wurde es aber Zeit, die Polizei zu informieren. Ein prüfender Blick auf die Akkuanzeige ihres Handys, okay, noch 25 Prozent, das sollte für den Rest des Abend reichen. „Polizeinotruf Schwalm-Eder.“ Kein Name. Nur das. Irene spürte schon wieder Ärger in sich hochkochen. Keinen Anstand, keine Moral gab es heutzutage mehr. Nicht mal die Polizei verhält sich korrekt, wenn man sie anruft. „Irene Schleppender am Apparat. Mit wem habe ich das Vergnügen zu sprechen?“, fragte sie bewusst schnippisch. Die Antwort ließ wirklich so lange auf sich warten, wie es Irene vorkam. Bestimmt mindestens 5 Sekunden. Das ist eine sehr lange Zeit, wenn man bedenkt, dass die Notrufnummern oftmals nur als eine Leitung existieren, weshalb schon Kindern beigebracht wird, dass Notmeldungen immer kurz und knapp abzufassen sind. Es könnten ja noch schlimmere Dinge zeitgleich geschehen, die der Polizei auch mitgeteilt werden müssen, zum Beispiel ein Banküberfall oder die Sichtung eines UFOs. Ganz schlimm, wenn dann keines von beiden rechtzeitig der Polizei gemeldet werden kann, weil gerade gemeldet wird, dass ein Waschbär angefahren wurde und das dann so lange dauert, weil die Polizei schlechte Laune hat oder keinen Anstand und dann auch noch der Meldende auf Stressbewältigung aus ist.

So kann es dann passieren, dass Außerirdische sich die Bankräuber schnappen, bevor die Polizei überhaupt Wind von der Sache bekommt. Schnappen, mit ihnen experimentieren und mit der Kohle in Las Vegas einen drauf machen. So etwa musste der diensthabende Beamte der Wache gedacht haben in diesen 5 Sekunden. Daher wurde er plötzlich sehr eilig: “ Oberwachtmeister Erwin Zores. Ihren Namen habe ich notiert. Was ist geschehen? Bitte fassen Sie sich kurz!“ Irene erstattete knapp Bericht. Oberwachtmeister Zores teilte ihr mit, dass eine Streife sich im Moment nur 3 Kilometer entfernt befände und gerade frei sei. Irene bedankte sich artig und beendete das Gespräch. „Zeit, schnell noch mal Pipi zu machen bevor die kommen“, murmelte sie vor sich hin. Der Toyota gab ihr genügend Deckung vor eventuellen vorbeifahrenden Gaffern, außerdem war es fast stockdunkel. Hemmungslos hockte sie sich vor die Kühlerhaube und erleichterte sich. Auf das Abwischen konnte sie in dieser Notsituation gut verzichten. Kaum hatte sie die Hose hochgezogen, bemerkte sie ein blaues Flackerlicht auf der Straße, das sich rasch näherte. Schnell lief sie an den Straßenrand und winkte die Polizei herbei. Auf das akustische Sondersignal hatten die Beamten verzichtet. „Sie müssen aber noch die Warnblinkanlage einschalten!“ Schon waren die beiden, die gerade aus dem Wagen ausgestiegen waren, stark angefressen. „Einen schönen guten Abend, erst einmal, gnädige Frau!“ erwiderte der ältere der beiden, der auf der Fahrerseite ausgestiegen war. Der andere, ein junges Bürschchen, wahrscheinlich gerade von der Polizeiakademie in den ersten Arbeitseinsatz entlassen, rückte sich den Waffengürtel zurecht. Geschickt schaffte er es dabei, sich mit einer geschmeidigen Bewegung, fast unmerklich, der Anwesenheit oder sogar dem Wohlergehen seines Geschlechtsteils durch einen schnellen, prüfenden Griff zu versichern. Irene sah das aber wohl. Auch der ältere Kollege, der missbilligend den Kopf schüttelte. „Ich bin Hauptwachtmeister Schurigel. Dies ist mein Kollege, Herr Michels.“ Die Stimme des jungen Polizisten klang überraschend tief und selbssicher. Da fiel Irene ein, einmal gehört zu haben, das bei Polizeistreifen immer der ranghöhere auf dem Beifahrersitz ist, als Chef sozusagen, weil Autofahren kann ja jeder. Aber nicht jeder sagen, wo es lang geht. Das hätte sie jetzt nicht gedacht, dass so ein junger Kerl einen alten Mann wie den Wachtmeister Michels so durch die Gegend scheuchen kann. Sie stellte sich vor und schilderte den Unfallhergang. Während der junge Herr Schurigel dabei die ersten Notizen in einem Smartphone eingab, natürlich per Spracheingabe, wie das heutzutage modern ist, schlich der ältere Beamte mit einer Taschenlampe um den Toyota. „Frau… kommen Sie doch mal bitte her“, rief er plötzlich, als er an der Motorhaube des Wagens angekommen war. „Ich glaube, Sie haben einen Kühlerschaden.“ Voller Sorge, vorhin nicht alles bei ihrer Schadensbegutachtung gesehen zu haben, sprang sie herzu. Der Lichtkegel der Taschenlampe beleuchtete eine große Pfütze. Schillernd brach sich neben dem Schein der Lampe auch das fahle Licht des aufgehenden Halbmondes darin. „So wie das aussieht, müssen sie abgeschleppt werden. Das ist ja die ganze Kühlflüssigkeit. Sieht man ja auch schön an der gelblichen Färbung.“ Wachtmeister Michels ging in die Knie. Die Gelenke knackten entsetzlich laut. „Das ist normal. Tut gar nicht weh.“ Ächzend watschelte er ein wenig näher an die Lache heran. Sein Gesicht war schmerzverzerrt. „Kann jetzt nichts erkennen. Ist zu dunkel.“ Prüfend steckte er einen Finger in eine Stelle der Pflütze, zog ihn heraus und hielt ihn unter die Nase. „Eindeutig. An Ihrer Stelle würde ich den Abschleppdienst rufen.“ Irene fasste es nicht. „Soll er doch glauben was er will“, dachte sie. „Hier geht es um ein Tierleben. Haben sie das noch nicht begriffen? Der Waschbär ist über die Straße auf die andere Straßenseite. Wir müssen ihm helfen!“ „Müssen helfen. Müssen helfen! Helfen Sie mir erstmal wieder hoch, Frau…! Anscheinend schaffte es Wachtmeister Michels wirklich nicht mehr, aus eigener Kraft aufzustehen. Sein junger Kollege war inzwischen wieder zum Streifenwagen zurückgegangen, wohl um den Unfallbericht an die Wache zu schicken. „Leck mich doch am Arsch!“ flüsterte Irene und wandte sich ab. Das konnte ja wohl nicht wahr sein! Wen ließen sie heutzutage denn alles bei der Polizei rumlaufen? Gichtige Frühpensionäre und triebhafte Pubertierer. Und dachte dabei an den Schurigel und dessen Griff in den Schritt. Hatte er dabei nicht so ein lüsteres Glitzern in den Augen gehabt? Leider konnte sie sich nicht mehr daran erinnern so etwas gesehen zu haben, so sehr war sie vorhin von der Handlung des jungen Polizisten beeindruckt. Aber der Gedanke gefiel ihr. Jung, pervers und triebhaft. Wahscheinlich auch noch schießwütig.

Entschlossen schnappte sie sich ihr Smartphone vom Beifahrersitz. Sie schaltete die Taschenlampen-App ein und leuchtete auf der gegenüberliegenden Straßenseite nach dem verschwundenen Waschbär. Hinter ihr jammerte immer noch Wachtmeister Michels. Der jugendliche Polizist saß weiter im Einsatzwagen und kommunizierte mit der Wache. Hinter den Sträuchern am Straßenrand erkannte Irene einige größere Gebäude. Das musste der Kalbshof sein, eine ehemalige gräfliche Domäne, auf der seit den siebziger Jahren von einem Industriellen aus dem Ruhrgebiet Pferdezucht betrieben wurde. Die Einfahrt zum Hof war höchstens 50 Meter entfernt. Kurzentschlossen marschierte Irene los. Der alte Michels hatte sich mittlerweile tatsächlich hochgequält und rief seinem jungen Kollegen zu: “Kevin! Wo will die denn hin?” Mit zunächst vorsichtigen, langsamen Schritten, dann immer schneller werdend, ging er Irene hinterher. Hauptwachtmeister Schurigel hatte endlich die Datenübertragung beendet. Langsam fuhr er an und seinem Kollegen und der komischen Frau, die schon nicht mehr zu sehen war, hinterher. Als er seinen Kollegen erreicht hatte, drückte er auf den Akustikknopf der Sondersignalanlage. “Tatüü, tataa!” Das hatte den gewünschten Erfolg. Michels fuhr der Schreck in die Glieder, er hatte das Fahrzeug noch nicht bemerkt. “Los, Michels”! Schurigel stieg aus und ging um das Fahrzeug und ließ sich auf den auf den Beifahrersitz fallen. “Du bist der Fahrer, ich der Bestimmer. Fahr dem Schnuckelchen hinterher. Die ist bestimmt in den Bauernhof da reingelaufen!” Mit hochrotem Kopf, verursacht durch Anstrengung, Schmerz in den Knien und vor allem einer unbändigen Wut auf seinen jungen Kollegen, stieg Michels ein und gab Gas. Eines Tages würde er sich rächen, bitterlich rächen. Viel fehlte nicht mehr, er war kurz vor einer Kurzschlusshandlung. Doch so schnell, wie er sich aufgeregt hatte, wurde er auch wieder ruhiger. Weil er daran dachte, wie er diesem jungen Schnösel, diesem arroganten Widerling so richtig einen verpassen würde.

In seinem Tagebuch, das er regelmäßig schrieb, hatte er schon viele gute Entwürfe notiert, einer besser als der andere. Alle hatten die Gemeinsamkeit, dass am Ende der Schurigel froh sein konnte, wenn er nach dem Rausschmiss bei der Polizei noch einen Job als Nachtwächter bekommen würde.

„Pass doch auf, alter Mann!“ Schurigels gebellter Ausruf kam eigentlich zu spät. Na, man kann nicht alles haben: jugendliches Aussehen noch mit 22, ständig Lust auf schmutzigen Sex, gemeines Verhalten gegenüber seinen Mitmenschen, Schießwut und Reaktionsschnelligkeit. Der Schurigel hatte das alles zusammen auch nicht. Nachdem wir schon ein wenig über ihn erfahren haben, brauchen wir nicht weiter zu überlegen, um zu wissen, woran es ihm haperte. Weitere Haperungen sind zu erwarten, doch begnügen wir uns zunächst mit der ihm eigenen Trägheit. Nicht, dass er ein Lahmarsch war. Nein, sportlich war der Schurigel topfit. Wenn der erstmal in Fahrt kam, rannte er alles nieder, boxte alles nieder. Wenn er in Fahrt war. Wir müssen uns einen Schnellzug vorstellen. Ist der erstmal auf 250 Sachen, hält er das lange durch. Aber er braucht 10 Kilometer, um diese Geschwindigkeit zu erreichen. Beim Schurigel war das einer gewissen geistigen Trägheit geschuldet. Den Start bei einem schnellen Bahnrennen verpasste er immer. Während seine Konkurrenten schon 10 Meter hinter sich hatten, klebten die Sohlen vom Schurigel immer noch am Startklotz. Aber dann! Aber dann!

Jedenfalls hatte der Michels schon längst vor dem verletzten Waschbär angehalten, der gleich in der Hofeinfahrt lag. Dass er noch nicht gestorben war, konnten die Polizisten gleich erkennen, so heftig hoben und senkten sich die Flanken des verwundeten Tieres. Die beiden stiegen aus. Im Abblendlicht des Opel Omega betrachteten sie dir Verstümmelungen. „Ach du Scheiße.“ Schurigel zeigte auf eine Stelle neben dem abgeknickten Hinterlauf. „Siehst du das? Das sind Därme.“ Michels wandte sich ab. Ihm war zum Kotzen zumute. Aus Richtung der Wohngebäude waren Stimmen zu hören. Mit schnellen Schritten, fast laufend, kam Irene um die Ecke einer Scheune gebogen und schrie: „Rufen Sie einen Tierarzt, schnell!“ Verwundert drehte sich nun auch der Schurigel um. Da war Irene bereits vor ihm und boxte ihn mit beiden Fäusten gegen die Brust. „Was stehen Sie hier denn noch herum? Sehen Sie nicht, dass das Tier Hilfe braucht? O Gott! Und ich bin schuld! Nun machen Sie schon!“ Ratlos schaute der Schurigel zu seinem älteren, erfahreneren Kollegen. Der zuckte die Schultern und tippte mehrmals mit einem Zeigefinger gegen die Stirn. „Gut dass Sie schon da sind!“ Eine tiefe Stimme brachte weitere Spannung in die Situation. Schwer atmend hatte sich ein schwergewichtiger Mann genähert. Es war der Pächter des Hofes, Herr Schwintzer, den Irene aus dem Pferdestall geholt hatte. „Da ist ja das Viech!“ rief er freudig aus, als er den Waschbär auf dem Hofpflaster liegen sah. „Den schmeiß ich gleich auf die Miste!“ Schon bückte er sich, um das Tier am Schwanz aufzuheben. Das hätte er lieber bleiben lassen sollen. In diesem Wildtier war noch sehr viel Leben. Es reichte allemal aus, um der fleischigen Hand des Herrn Schwintzer einen kräftigen Biss mit nadelspitzen Zähnen zu versetzen. Als dieser vor Schmerz aufschreiend die Hand zurückzog, hatte der Waschbär den Fang noch nicht wieder öffnen können. In einer halbkreisförmigen Bewegung wurde er emporgerissen und fiel wieder auf das Pflaster zurück. Ausgerechnet voll auf den gebrochenen Hinterlauf. Der schrille Schmerzensschrei des Tieres gellte allen in den Ohren. Glücklicherweise blieb es bei diesem einen kurzen Schrei. Offensichtlich war der Waschbär bewusslos geworden oder sogar gestorben. Prüfend stieß Schurigel das Tier mit einem Fuß an. Irene war verzweifelt. Was waren das nur für rohe, brutale Menschen!

“Was fällt Ihnen ein, das arme Tier zu treten!” Irene schossen Tränen in die Augen. “Können Sie nicht einen Tierarzt rufen?” “Das Tier gehört erschossen.” Schurigel öffnete mit einem lässigen Daumenschnippen die Sicherungslasche am Holster seiner Dienstwaffe. Ein feuchter Glanz hatte sich über seine Augen gelegt. Jetzt fielen seine Augenlider herunter und verengten seine Augen zu kleinen Schlitzen. Unvermittelt drängte sich Irene die Szene mit der Schwester von Jack Crabb in dem Film “Little Big Man” auf, in der sie ihm als Revolverheldin den Schlangenblick für zielsicheres Schießen demonstriert. Bevor sie diesem fiesen Kerl erneut die Fäuste gegen die Brust schlagen konnte, drängte sich Michels zwischen die beiden. Entschlossen fasste er seinen Kollegen am Arm. “Darf ich dich mal kurz sprechen?” Dabei zog er den Schurigel etwas zur Seite. Der erwachte wie aus einem Traum und verzog seinen Mund zu einem verächtlichen Grinsen. Was wollte der Alte denn? Dennoch folgte er ihm weg von den anderen zu der Scheunenecke. Leise, damit Irene und der Hofpächter ihn nicht hören konnte, sagte Michels: “Ich weiß, dass du ein schießwütiger Hund bist. Aber hast du mal daran gedacht, was dich nachher an Schreibkram und Erklärungen dem Dienststellenleiter und der Gewerkschaft gegenüber erwartet, wenn dir eine Kugel in der Waffe fehlt. Glaub’ mir: das wünschst du deinem ärgsten Feind nicht. Außerdem ist das ein Wildtier. Das macht normalerweise der zuständige Jagdpächter.” “Was reden Sie denn da so lange! Hier zählt jede Sekunde. Rufen Sie jetzt endlich einen Tierarzt?” Irene war den beiden gefolgt und stellte sich wütend vor sie. Die Arme hatte sie schützend vor ihrer Brust verschränkt und blitzte die beiden aus tränenden Augen fordernd an. Schurigel schaute nachdenklich. Dann sagte er: “ Michels, geh’ ans Funkgerät im Wagen und mach’ das. Frau …, sie gehen jetzt mal am besten mit dem Herrn Schwintzer ins Haus und helfen ihm, seine Wunde zu versorgen.” “Ja, das wäre sehr schön!” Herr Schwintzer trat näher und hielt Irene die blutende Hand hoch. “Das kann ich nicht selber versorgen und außer mir ist heute abend niemand da. Helfen Sie mir bitte!” Dieser weinerlich vorgetragenen Bitte konnte die sensible Irene sich nicht verschließen. Sie folgte Herrn Schwintzer zum Wohnhaus. Auf halben Weg drehte sie sich um und rief: “Wenn ich wiederkomme, ist der Tierarzt da. Ist das klar?” Zur Bekräftigung ihrer Forderung hob sie einen Arm in Richtung der Polizisten und drohte ihnen mit ausgestrecktem Zeigefinger. “Nun kommen Sie schon”, rief Herr Schwintzer, der schon im offenen Hauseingang stand. “Ich verblute gleich, wenn Sie mir nicht gleich einen Verband anlegen!” Als Irene im Haus verschwunden war, sagte Schurigel: “So eine doofe Tusse! Wer die hat, kann sich gleich erschießen! Michels, was ist denn los? Hast du was erreicht?” Er trat an den Einsatzwagen heran. Michels hatte gerade das Gespräch mit der Einsatzleitung beendet. Er stieg aus, nahm die Mütze ab und kratzte sich am Kopf. “Kann nicht mehr lange dauern. Die Einsatzleitung hat den Jagdpächter auf dem Handy erreicht. Zufälligerweise ist er fast um die Ecke und will gleich da sein.”

In die Hofeinfahrt bog ein dunkles Geländefahrzeug. „Ist er das?“ Schurigel sah Michels fragend an. Der zuckte die Schultern. „Kann sein. Dann war er aber wirklich sehr nah.“ Der Landrover hielt neben dem Polizeiwagen. Aus dem Wagen stieg ein vierschrötiger Mittfünfziger. Hohe Forststiefel, Tarnfarben-Kampfanzug, schwarze Pudelmütze ohne Trottel. Mit schweren Schritten ging er auf die beiden Polizisten zu. Selbst im schwachen Licht der Hofbeleuchtung und der Scheinwerfer der Autos war die Trübung seiner Augen gut zu erkennen. „Guten Abend die Herren!“ Seine Stimme knarrte wie alte Holzdielen. „Wo ist denn der Waschbär? Ah, da liegt er ja.“ Zu dritt gingen Sie auf das verendende Tier zu. „Sie sind der Jagdpächter?“ Michels hob leicht schnuppernd die Nase. „Ziemlich gewagt von Ihnen, mit einer Alkoholfahne hier zu erscheinen!“ Der Mann kniff die Augen zu kleinen Schlitzen zusammen. „Wilfried Hentschel. Jagdpächter hier. Was wollen Sie denn? Ich war bis eben auf einem Ansitz um die Ecke und habe gerade erst begonnen, meinen mitgebrachten Muntermacher allezumachen. Wer hat mich denn angerufen für diese Scheiße? Ihr doch. Also beschwert euch nicht. Morgen früh wäre ich wieder ausgenüchtert nach Hause gefahren. Jetzt bin ich hier und soll euch helfen. Da kann euch das bisschen Schnaps doch egal sein. Außerdem – hier kann ich sowieso nichts machen. Dem Tier muss geholfen werden, das ist klar. Aber ich bin laut Jagdgesetz verpflichtet, mindestens 200 m von jeglicher Wohnbebauung nicht zu schießen. Das bleibt euch überlassen, das Tier von seinen Qualen zu erlösen.“ Schon drehte er sich um und ging zu seinem Rover zurück. In diesem Moment kam Irene zurück. Die letzten Worte des versoffenen Jagdpächters hatte sie sehr gut verstehen können. Ehe die beiden Polizisten sie hindern konnten, hatte sie Herrn Hentschel eingeholt und hämmerte ihm mehrere Male die Fäuste in den Rücken. „Sie Schwein. Sie Dreckschwein!“ schrie sie. „Das Tier ist nicht tot! Es soll leben! Es muss sofort zu einem Tierarzt!“ Hentschel hatte mit einem solchen Angriff nicht rechnen können. Die Wucht der verbalen Beschuldigung traf ihn härter als der tätliche Angriff. Dieser ließ ihn zwei Schritte nach vorn stolpern, bevor er sich wieder gefangen hatte und sich zu ihr umdrehte. Was er sah, erfüllte ihn mit Grauen. Das fratzenhafte, hassverzerrte Gesicht dieser Frau ließ ihn schlagartig ernüchtern. Unvermutet sah er sich einer Gestalt gegenüber, die ihn sehr an den Grund seiner nächtlichen Ansitze mit Schuss denken ließ – seiner Frau. Im Vergleich zu dieser Furie hier erschien ihm seine Eva allerdings noch wie ein Engelchen. Was stampfte die denn so mit den Füßen? Nun hatte sie auch noch einen Schreikrampf. Heulend und kreischend hüpfte sie auf und ab, drehte sich im Kreise und stieß zwischendurch die derbsten Flüche aus: „Männerkackbande! Schwanzlutscher elende! Verlogenes, unfähiges Männerpack. Bullensch…eiße!“ Befriedigt stellte Hentschel fest, dass er wieder einigermaßen in der Lage war, Dinge genauer und differenzierter zu sehen. Als die Irre „Bullenscheiße“ rief, nachdem sie zuvor die Männer als Ganzes verfluchte, dachte er sich sofort, dass sie wohl so irre doch nicht sein konnte, die beiden Polizisten als „Bullenschweine“ zu titulieren. Warum standen die Polizisten überhaupt so gelassen neben ihrem Auto? „Wie lange soll die denn noch hier herumtoben?“ Herr Hentschel musste selbst laut rufen, um sich gegen das Geschrei von Irene durchsetzen zu können. „Ach, wisst ihr was? Ich fahre wieder zu meinem Hochsitz! Auf Wiedersehen, die Herren und die Dame!“ Er stieg in seinen Rover und wendete. Dabei hätte er fast Irene erwischt, die immer noch völlig abgehoben wie Rumpelstielchen herumtanzte. Die Rücklichter des Wagens verschwanden.

Durch das laute Geschrei auf dem Hof wurde endlich Herr Schwintzer wieder wach. Nachdem Irene ihm die Hand verbunden hatte, war er in die Kellerbar gegangen und versuchte, den Schmerz mit einigen Kurzen zu betäuben. Das war ihm gut gelungen. Nicht nur der Schmerz in der Hand war erträglicher geworden, den ganzen Kerl hatte schnell eine gewisse Mattigkeit erfasst. Mühsam erhob er sich vom Sofa und schleppte sich die Kellertreppe hoch. Hier oben im Flur war der Lärm bereits kaum noch zum aushalten. Er bekam Kopfschmerzen. Stöhnend ging er weiter und sah, als er um die Scheunenecke bog, die wildgewordene Irene springen und tanzen. Sie schrie zum Gotterbarmen. Die beiden Polizisten hatten sich in den Wagen gesetzt und die Türen geschlossen. Ja was war das denn? Schwintzer kam bis auf ungefähr 3 Meter an Irene heran. Neben ihm lag der Waschbär. Es war nicht zu erkennen, ob noch Leben in dem Tier war. Blödes Sauvieh. Die Wunde begann gleich wieder mehr weh zu tun. Irene hatte ihn nun erkannt und warf an ihn. Zitternd lag sie in seinen Armen und flüsterte: „Helfen Sie doch. Helfen Sie doch dem armen Tier!“ Schwintzer bekam den Wunsch, den Waschbär am liebsten zu zertrampeln und Irene auf seine Wohnzimmercouch zu legen. Da war doch noch ein Gedanke? Er vor vorbei und vorläufig nicht zu fassen. Schwintzer führte Irene ein paar Meter weiter zu einem Betonklotz, der als Gegengewicht für einen Schlepper mit schwerem Pfluganbaugerät diente. Er half ihr sich hinzusetzen. Die schwere Stalljacke zog er aus und legte sie ihr über die Schultern. Es machte Irene nichts aus, dass das Ding entsetzlich nach Pferdemist stank. Dankbar strahlte sie ihren Wohltäter aus verheulten Augen an. Der nahm ihre Hände in seine und sagte: „Warten Sie mal gerade, ja?“ Schon stand er neben dem Polizeiwagen und klopfte energisch an die Scheibe des Fahrers. Michels hatte wieder die ihm angestammte Funktion als Fahrer eingenommen und starrte ihn mit zusammengekniffenen Lippen an. Dann hob er die rechte Hand und wies mit dem Daumen auf seinen Kollegen. Ziemlich angefressen kam Schwintzer in dem Moment auf die andere Wagenseite, als sich die Beifahrertür öffntet und Schurigel waffengurtrückend ausstieg. Noch bevor der Hofpächter etwas sagen konnte, bedeutete ihm Schurigel mit beiden Händen, er solle auf Abstand bleiben. Er räusperte sich heftig und sagte leise: „Wir setzen uns jetzt ab. Kein Einsatz in unserer Zuständigkeit.“ „Seid Ihr denn alle wahnsinnig?“ Schwintzer explodierte förmlich.

Mit einem entschlossenen Satz wollte er dem Schurigel an die Kehle springen. Kraftvoll stieß er sich mit dem rechten Fuß ab. Leider rutschte er sofort weg und hatte seine liebe Mühe, sich mit den Händen auf dem Boden abstützen zu können. Ausgerechnet hier hatte der Waschbär zuerst gelegen und schmieriges Blut auf dem Pflaster hinterlassen. Stöhnend richtete Schwintzer sich auf und betrachtete die bandagierte Hand. Unterdessen saß der Schurigel wieder im Auto. Er rief die Einsatzzentrale. „Hessen 04 für Hessen 2256. Bitte kommen. Hier Hessen 04, kommen. Hessen 2256 meldet sich vom letzten Standort ab. Einsatzkräfte sind überfordert. Hohe psychologische Herausforderung. 2256 rückt jetzt ein. Schicken Sie Ersatzkommando. Kommen. Hier Hessen 04. Verstanden. Hessen 2244 übernimmt. Ankunft in 6 Minuten. Nach dem Einrücken melden Sie sich sofort in der Einsatzzentrale. Ende. Lächelnd startete Michels den Motor. Langsam setzte der Omega zurück und wendete. Zurück blieben ein verwirrter und zornige Schmeltzer und Irene. Sie hatte sich wieder etwas beruhigt und war aufgestanden. Vorsichtig näherte sie sich dem Waschbär, immer darauf gefasst, von dem Tier gefasst zu werden. Das war das letzte, was sie wollte. Die Bisswunden an der Hand von Herrn Schmeltzer hatten richtig ekelhaft ausgesehen. Es war eine große Überwindung für sie gewesen, die Wunde zu reinigen und zu verbinden. Ihr sollte das besser nicht passieren. Doch der Waschbär lag sehr still. Dennoch: wenn man genau hinsah, bemerkte man ganz leichte Atembewegungen. „Warum tut denn niemand etwas?“ Wieder und wieder stellte sie sich diese Frage. Herr Schmeltzer ging zu ihr und fasste ihre Hände. „Frau…“ Er stockte. „Wie heißen Sie eigentlich?“ „Reparello. Irene Reparello“, schniefte sie. „Verwandt mit den Reparellos aus Wabern?“ „Ja, warum?“ „Ich war mal mit einem Reparello in der Berufsschule. Silvio hieß er.“ „Könnte mein Vater gewesen sein. Dachdeckerausbildung?“ „Ja.“ „Dann war er’s. Ist vor 6 Jahren vom Fritzlarer Dom gefallen. Wissen Sie das nicht? Das war eine Riesenschlagzeile in der örtlichen Presse.“ Irene schüttelte sich. „Die haben uns die Bude eingerannt. Von Schwarzarbeit war die Rede und der Bischof war ganz schön in der Bredouille. War aber alles sauber. Ein halbes Jahr später ist meine Mutter gestorben.“ „Das tut mir leid.“ Schmeltzer war den Tränen nahe. „Das war schon ein feiner Kerl, der Silvio. Hat uns immer mit Grappa und Ramazotti versorgt auf den Parties. Dass er gestorben ist, wusste ich wirklich nicht. Ich war 10 Jahre in Südafrika und bin erst vor 2 Jahren wieder zurückgekommen. Ohne Beate!“ Schmeltzer rannen die Tränen herunter und er wandte sich ab. Irene unterließ es, nachzufragen wer Beate war und dachte sich, es wäre besser, ihn seinem Schmerz zu überlassen.

In diese traurige Situation fuhr mit Blaulicht ein Polizeiwagen. Die schneidigen Polizisten, die dem Wagen entstiegen, hockten sich nach einer kurzen Begrüßung vor das Tier. „Der lebt echt noch!“, stellte Polizeiobermeister Herbener fest. „Meinst du, wir sollten ihn erschießen?“ fragte sein Kollege Polizeihauptwachtmeister Furgall. „Nein! Nein! Nein!“ Irene sprang hinzu. „Bringen Sie ihn bitte zum Tierarzt. Ich fühle mich so schuldig an dem armen Tier. Ich will es nicht auf dem Gewissen haben!“ Die beiden Polizisten verständigten sich mit Blicken. Ansatzweise hatten sie im Polizeifunk mitbekommen, was das hier für eine Geschichte war. Und dass ihre Kollegen den Einsatz hier gesteckt hatten. Hier kam man mit guten Worten nicht weiter, das wussten sie. Zu Schmeltzer gewandt fragte Herbener: „Haben sie einen Plastiksack oder eine Plane? Ohne was nehme ich das Ding nicht mit.“ Irene klatschte freudig in die Hände. „Das ist schön. Das ist schön!“ Sie drehte sich zu Schmeltzer und rief: „So holen Sie nun endlich eine Plane! Das Tier leidet doch!“

Zwanzig Minuten später hielten zwei Fahrzeuge vor der Praxis von Frau Dr. Killich in Borken. Die Polizeieinsatzzentrale hatte ihr bereits die Ankunft eines verletzten Tieres gemeldet. Sie stand in der hellerleuchtenden Eingangstür und rauchte. Strähniges, dunkles Haar, von silbrigen Stähnen durchzogen, umrahmte ihr faltiges Gesicht. Ihre ganze Erscheinung erinnerte sehr an eine Pennerin vom Frankfurter Bahnhofsvorplatz. Doch sie war eine Könnerin. Ihre Praktikumsplätze für Veterinäranwärter waren unter Studenten heiß gehandelt. Man munkelte im Dorf, sie hätte sogar das Bundesverdienstkreuz am Bande erhalten. Doch ganz genau wusste das niemand. Polizeiobermeister Herbener, der nun den Kofferraum des Polizeiwagens öffnete, dachte bei ihrem Anblick jedenfalls an die Nacht, in der er sie kennengelernt hatte. Das musste vor ungefähr zwei Jahren gewesen sein, er war erst seit einigen Wochen nach der Ausbildung hier zur Wache kommandiert worden.

Er hatte mit seinem Kollegen Ferdinand Oxler eine total langweilige Nacht fast hinter sich. Ein wenig waren sie Patrouille gefahren. Die Strecke war frei gewählt, nur einige Fixpunkte waren nach Routenplan unbedingt anzufahren. Dazu zählte neben dem Borkener Bahnhof, wo mindestens zweimal zwischen 23 und 2 Uhr Präsenz gezeigt werden musste, auch das Anwesen des ehemaligen Direktors des abgebauten Kraftwerks der Preußen Electra in Borken. Seit dem Niedergang des örtlichen Braunkohleabbaus und dem Abriss der ehemals größten Dreckschleuder der westdeutschen Kohlekraftwerke lebte Holger Zumschlag in einer Schlossanlage am Rand von Dillich. Dieses Schloss hatte binnen kürzester Zeit einen ganz besonderen Ruf in ganz besonderen Kreisen erhalten. Gelegentlich wurde der ein oder andere Prominente ans Licht der Öffentlichkeit gezerrt, wenn findige und ausdauernde Reporter belegen konnten, dass wieder mal ein Symbol dümmlicher Deutschhaftigkeit, nach außen treu, kinder-und tierlieb, ein Bewahrer der deutschen Leitkultur, in dieser Lokalität verkehrt und zwar besonders verkehrt hatte.

Jeder Kollege einer Nachtpatrouille der Borkener Dienststelle freute sich, wenigstens einmal in der Schicht langsam an der Zufahrt zum Schloss vorbeifahren und nach Auffälligkeiten Ausschau halten zu können. Herbener waren schon zu Beginn seines Dienstantritts in Borken diese Nachtfahrten von seinen Kollegen schmackhaft gemacht worden. Nachdem er selbst nach gefühlten 10 Vorbeifahrten immer noch nichts Auffälliges entdecken konnte, hatte er es schon fast aufgegeben, dass er eines Nachts zu den Glücklichen gehören würde. Dann kam die Nacht der Nächte.

In einer lauen Sommernacht war er mit seinem Kollegen Bernd Müller vor einer halben Stunde am Schloss vorbeigefahren. Wieder war nichts von schönen Frauen zu sehen. Zwar standen fünf oder sechs Oberklassewagen an der Straße neben der Schlosseinfahrt, weil diese bereits von anderen Wagen zugeparkt war. Doch von den Gästen war niemand zu sehen. Die gerade stattfindende Party musste noch in vollem Gange sein.

Seit Oberwachtmeister Ferdinand gleich bei der ersten beauftragten Kontrollfahrt das Filmsternchen Yvonne Schnatterfeld volltrunken und barbusig auf ihren Jaguar zutorkeln sah, woraufhin der Abschleppdienst ihn und seinen Kollegen aus dem Graben ziehen musste, seitdem war für alle Kollegen die Nachtpatroullie ein wahres Vergnügen geworden. Nach jeder Schlossparty erfreute sich die Polizeiwache an neuen und besseren Geschichten. Nur Herbener hatte bisher in dieser Hinsicht noch nichts erlebt und zweifelte langsam am Wahrheitsgehalt der geilen Kollegengeschichten.

In dieser Nacht der Nächte aber kam ein Einsatzbefehl der Leitstelle. “Schwalm-Eder 2345, wie ist Ihr Standort?” Hier Schwalm-Eder 2345, Ortsausfahrt Borken Richtung Singlis.” “Fahren Sie sofort zum Schloss von dem Zumschlag, wir haben einen Notruf wegen sexueller Belästigung erhalten.” “Verstanden, sind unterwegs!”

Als sie zum Schloss kamen, quälten sie sich die durch Nobelkarossen zugestellte Zufahrt zum Eingang. Die Tür stand weit offen und überall wuselte die Schickeria Deutschlands herum. Die Polizisten mussten sich von den halbnackten und zugedröhnten Partygästen manche Anzüglichkeit gefallen lassen, ehe sie durch die Halle zum Hinterausgang gelangten. Auf der Terrasse bot sich ihnen ein interessantes Bild. Der Hausherr saß nur mit einem Bademantel bekleidet auf einem Stuhl und hielt sich mit verheultem Blick den Schritt. Daneben hatten zwei muskelbepackte Männer, offensichtlich Leibwächter, erhebliche Mühe, eine keifende und zappelnde Frau in mittlerem Alter festzuhalten. Das war die Tierärztin Dr. Killich. Wie sich in der Vernehmung bald herausstellte, war Dr. Killich vom Zumschlag gerufen worden, um die Wunde von Buschi zu versorgen. Buschi war der Yorkshire-Terrier von Zumschlags dritter Ehefrau. Diese war wieder einmal in der Weltgeschichte unterwegs. Übermorgen würde in der Boulevardpresse ihr Techtelmechtel mit der argentinischen Umweltministerin reißerisch aufgemacht die halbe Nation in Aufregung versetzen. Jetzt jedoch war sie nicht da und hatte Buschi in der Obhut ihres Mannes gelassen. Das arme Tier war jedoch aus dem Raum entwischt, in den Herr Zumschlag es eingesperrt hatte. Ein liebestolles Gästepaar hatte sich ausgerechnet das Hundezimmer von Buschi für eine kleine Partypause ausgesucht. Kaum dass sich die Tür einen kleinen Spalt geöffnet hatte, war Buschi rausgeflitzt. Weit kam er jedoch nicht, denn der bereits heftig schwankende Staatssekretär Wilfried Hocker trat versehentlich dem Buschi voll auf die Pfote. Nur ein kurzer jaulender Kläffer, dann war der Kleine schon in Ohnmacht gefallen und lag heftig aus einer Wunde blutend vor dem Buffet. Die Partystimmung hatte dies Vorkommnis nicht beeinträchtigt. Immerhin hatte der Hocker den Anstand gehabt, dem Zuschlag sein Mißgeschick zu gestehen. Bis dahin vergingen jedoch viele Minuten, in denen das wie leblos liegende Tier von den hungrigen Gästen rücksichtslos immer tiefer unter den Buffettisch geschoben wurde. Der Zuschlag war gerade sehr mit der Ariane Ruprecht beschäftigt, die sich seinen Avancen schon viel zu lange entzogen hatte. Nun hatte er sie fast soweit, da kam der Hocker und fragte ihn, ob er einen Hund hätte. Wieder vergingen kostbare Minuten, bis der Zuschlag die Wahrheit erfuhr. Tief besorgt lief er zum Buffet und schrie die Gäste an. Ariane Ruprecht war es dann, die den Buschi unter dem Tisch hervorzog und feststellte, dass er noch lebte. Unter seinen Gästen war natürlich niemand, der sich beruflich qualifiziert um den kleinen Hund kümmern konnte. Eine bange Zeit für Zumschlag verstrich, bis er endlich von einem seiner Bodyguards die Nummer einer örtlichen Tierärzin im Notdienst erhielt. Zweimal musste er es durchläuten lassen, bevor Dr. Killich sich verschlafen meldete. Immerhin war es mitten in der Nacht, halb drei. Mit dem Angebot von 1000 Euro, wenn sie in 10 Minuten bei ihm wäre, lockte der Zumschlag die Frau Dr. Killich in sein Schloss.

Ihre wilde Erscheinung war ja nicht dazu angetan, Vertrauen in ihre ärzliche Kunst zu setzen. Nach dem Anruf vom Zuschlag war sie aus dem Bett gesprungen und in ein viel zu großes labbriges T-Shirt geschlüpft, an dem noch die Farbreste ihrer gestrigen Hobbykleckserei waren. Die engen Jeans war auch nicht mehr die sauberste, jedenfalls am schnellsten verfügbar. Zu mehr und besserem Outfit war keine Zeit! So stürzte sie dann 1 Minute bevor das Limit von 10 Minuten ablief, in die Halle des Schlosses. Glücklicherweise war sie noch so geistesgegenwärtig gewesen, den Notfallkoffer mitzunehmen. Thriumphierend rief sie:“Da bin ich! Wo ist der Patient?“ Zweifelnd führte der Zuschlag sie zu Buschi, der auf der rechten Seite am Rande des Büffets aufgebahrt war. Dafür musste die Kürbissuppe zurück in die Küche. Die strähnigen Haare fielen Frau Dr. Killich vor das Gesicht. Hinter diesem Vorhang konnte niemand sehen, was sie da eigentlich machte. Das Endergebnis war jedenfalls verblüffend. Der Buschi hatte einen schönen weißen Verband um die verletzte Pfote und leckte der Tierärztin dankbar die Hand. Die Gäste klatschen Beifall. Unter den Hochrufen der Gesellschaft führte der Zuschlag die Ärztin auf die Terrasse und bot ihr einen Konjack an. Es entwickelte sich ein Gespräch zwischen den beiden und die 1000 Euro wechselten den Besitzer. Was dann geschah, konnte sich der Zuschlag am nächsten Tag überhaupt nicht mehr erklären. Vielleicht waren die Hormone sowas von am kochen gewesen, bestimmt auch wegen der Ariane Ruprecht. An die wäre er in dieser Nacht überhaupt nicht mehr drangekommen, die hatte sich den Buschi geschnappt und an ihren Busen gedrückt. Jedenfalls ließ der Zumschlag plötzlich alle Hemmungen fallen riss die Dr. Killich an sich und wollte an ihr herumschmatzen. So kam es dann zu einem Tritt in die Hoden, denn die Frau Dr. Kimmich kannte sich nicht nur in der tierischen Anatomie aus. Als sie ihm dann noch eine auf Maul hauen wollte, kamen die Leibwächter endich in Reichweite und hielten sie fest. Der Zuschlag tobte, heulte und brüllte, die Dr. Killich tobte und brüllte. Der Zuschlag war so wütend, dass er den Notruf wählte, kaum dass er wieder ein wenig Luft schnappen konnte. So kamen die beiden Polizisten ins Spiel.

Wie auf der Polizeischule gelernt, wirkten sie beruhigend auf die Kontrahenten ein. Dabei erfuhren sie große Unterstützung von einigen Partygästen, die ihr Pulver wohl schon verschossen hatten und sich mehr oder weniger ausgelaugt um die Gruppe geschart hatten. Ausgerechnet dem dicken Staatssekretär Hocker gelang es schließlich, den Zuschlag wieder herunterzuholen. Ob und welche politischen Zugeständnisse dabei eine Rolle spielten, sei dahingestellt. Jedenfalls konnten die Polizisten mit der Frau Dr. Killich abziehen und alles war wieder gut.

„Ah, da ist ja mein Lebensretter!“ Dr. Killich warf die Zigarette ins Blumenbeet und öffnete die Tür zu ihren Praxisräumen. „Kommen Sie, bringen Sie das Tier hinein!“ Herbener und Furgall trugen den Waschbar auf der Plane in das Behandlungszimmer. Dr. Killich hielt immer noch die Tür auf. Als Herbener an ihr vorbeiging, blinzelte sie ihn fröhlich an. „Nein, das nicht.“, dachte Herbener. Wieder holte ihn die Vergangenheit ein. Nach dem Abenteuer im Dillicher Schloss hatte die Frau Dr. ihm noch ziemlich zugesetzt. Wochenlang hatte er kämpfen müssen, um die wilde Frau davon zu überzeugen, dass er für sie nicht zu haben war. Wenn er zu dieser Zeit nicht genügend Rückendeckung durch einige laufende Bekanntschaften gehabt hätte, wer weiß, wie lange er noch hätte durchhalten können. „Keine Sorge, Süßer! Deine Zeit ist vorbei!“ Frech klopfte sie ihm auf den Hintern. Sein Kollege staunte.

Von hinten drängten Irene und Herr Schmeltzer in die Praxis. “Warum stehen Sie hier denn noch rum?” Irene hatte es eilig. So viel Zeit war schon verloren gegangen durch die Unfähigkeit der bescheuerten Staatsdiener. “Tun Sie doch was! Tun Sie doch was!” Dr. Killich fühlte sich in ihrer Berufsehre gekränkt. Das war ihr noch nie passiert, dass man ihr mangelnde Einsatzbereitschaft vorwarf. “Hier bin ich der Chef. Ich entscheide was passiert, klar?” Ihr durchdringender Blick brachte Irene zum verstummen. “Und nun legt das Tier endlich auf den Behandlungstisch!” fuhr sie den Herbener und seinen Kollegen an. Denen waren die Arme schon ganz schön schwer geworden. Schnell legten sie den Waschbär samt der Planenunterlage auf den Tisch. Frau Dr. Killich schob die beiden Polizisten zur Seite und besah sich das Tier. “Ja seid ihr denn total bescheuert? Wollt ihr mich verarschen, oder was?” Dr. Killich war durchaus eine Meisterin der direkten Rede. “Wer ist denn auf die tolle Idee gekommen, mir eine Waschbärleiche zur Behandlung zu bringen?” Wütend blickte sie mit vor Wut funkelnden Augen die vier Anwesenden an. “Verarschen kann ich mich auch alleine! Dass ausgerechnet du bei dieser Scheiße mitmachst, macht mich echt fertig!” Ihr Zeigefinger tippte die Brust von Herbener. Sein Kollege war entsetzt. Wie redete die denn? Immerhin waren sie Polizeibeamte im Einsatz und verdienten Respekt und keine Beleidigungen! Herbener hingegen war die Ruhe selbst. “Lass mal, Bernd. Die Frau Doktor meint es nicht so.” An Irene und Herrn Schmeltzer gewandt meinte er: “Vielleicht gehen Sie beide mal vor die Tür und lassen die Frau Doktor ihre Arbeit machen?” Irene gefiel das überhaupt nicht. “Das ist keine Leiche! Der arme Kerl lebt noch und braucht Hilfe! Schauen Sie doch mal genau hin, da haben sich gerade die Schnauzhaare bewegt!” Interessiert beugte sich Dr. Killich über das Tier. Sie richtete sich auf und rief: “Ach, du Scheiße! Wirklich! Los, jetzt! Alle raus hier!” Alle drängten zur Tür. Dr. Killich fasste Herbener am Arm. “Du bleibst hier! Ich brauche Hilfe bei der Operation!” “Das kann ich doch auch machen”, schluchzte Irene. “Quatsch da. Der Herbener kann das. Außerdem stinken Sie zu sehr nach Pferdemist. Wenn Sie noch länger hier im Raum bleiben, kann ich auf das Betäubungsmittel verzichten. Allerdings kann dann niemand dem Tier helfen, weil wir alle ins Koma gefallen sind. Raus jetzt!” Entschieden schob sie bis auf Herbener alle hinaus. Sie lehnte sich mit dem Rücken an die geschlossene Tür und schaute Herbener nachdenklich und zweifelnd an. “Ich kann’s dir erklären”, sagte er schnell, um der Frau Dr. zuvorzukommen.

Dr. Killich schnitt ihm das Wort ab: “Stell’ dir vor, ich bin auch schon auf die Lösung gekommen. Deine Erklärung kannst du dir sparen.”

Herbener zog fragend die Augenbrauen hoch. Dr. Killich fuhr fort: “Es ist die stinkige Stalljacke von der Frau, stimmt’s? Ein wenig kriminalistischen Spürsinn habe ich auch!” Verdutzt runzelte Herbener die Stirn. Das war jetzt nicht das, was er als Antwort erwartet hatte. Lachend tätschelte ihm Dr. Killich die Wange. “Ach, Werner! Das war doch nur Spaß! So, nun erzähl’ mal, was die Tusse für ‘ne Klatsche hat. Ich ziehe dabei schon mal die Spritze auf!” Während Herbener ihr erzählte, wie es kam, dass der Waschbär bei ihr auf dem Tisch lag, wobei er die Rolle von Irene besonders hervorhob, erledigte Dr. Killich den Waschbär mit einer finalen Dosis Crezinopecan.

“So, das hätten wir. Der ist alle. Wie bescheuert kann man nur sein, zu hoffen ein wildes Tier mit solchen Verletzungen könnte man noch retten. Da waren so viele gestandene Männer. Auf die Idee, dem Vieh mal mit einem Spaten ordentlich einen zu verpassen, ist wohl keiner gekommen?” “Du hättest die mal erleben sollen”, erwiderte Herbener. “Wir waren ja schon die zweite Patroullie. Schurigel und Michels hatten schon die Nerven verloren wegen der hysterischen Ziege. Ich möchte allerdings nicht wissen, was unser Abteilungsleiter mit den beiden nun anstellt. Hauptsache, ich und der Furgall können die Sache jetzt gut beenden. Wir sollten die drei wieder reinholen.” Herbener ging zur Außentür und öffnete sie. Draußen standen Irene und Herr Schmeltzer eng beieinander, Hand in Hand. Wachtmeister Furgall lehnte gelangweilt mit dem Rücken an der Hauswand. “Na, wie sieht es aus?” fragte er. “Hat die Frau Doktor ein Wunder vollbracht?” Herbener sah ihn strafend an. Das war jetzt wirklich nicht sehr psychologisch geschickt von seinem Kollegen, die Frau – wie hieß sie doch gleich – Reparello mit ihrer Tierliebe lächerlich zu machen. Andererseits – drumherumreden und beschönigen hatte bestimmt wenig Zweck. Tief sog er die Luft zu einer Erwiderung und einer bestimmenden Erklärung an Irene ein. Noch fehlten ihm die Worte. “So, Leute! Das Vieh ist alle! Ihr könnt es wieder mitnehmen! Die zwanzig Euro für die Todesspritze gehen auf meine Kappe. Den Abdecker bezahle ich aber nicht! Jetzt holt das Tier mal raus hier. Irgendwann will ich auch mal Feierabend machen!” Dr. Killich stand hinter Herbener und steckte sich eine Zigarette an. Forschend sah sie zu Irene. Sie sah ihr an, dass gerade eine Welt für die Frau zusammengebrochen war. Leichenblass hielt Irene sich an Herrn Schmeltzer fest und fühlte erstmal nichts. Doch bevor sie sich fassen konnte und einen weiteren hysterischen Anfall bekam, machte Dr. Killich kurzen Prozess mit ihr. Sie trat dicht an Irene heran und blies ihr den Rauch des ersten Zuges ins Gesicht. “Was sind Sie nur für eine bescheuerte Kuh?” Irene krallte sich noch fester an Herrn Schmeltzer. Eine Gelegenheit zur Antwort bekam sie nicht. Dr. Killich redete sie in Grund und Boden. “So, haben Sie das endlich kapiert?” beendete sie nach einer gefühlten Ewigkeit ihre Schimpftirade. Beschämt nickte Irene und ließ sich von Herrn Schmeltzer zu seinem Wagen ziehen. Kaum waren sie fortgefahren, klatschten Herbener und Furgall zunächst langsam, dann immer schneller und lauter mit den Händen Beifall. “Nun hört schon auf, ihr Clowns!” Dr. Killich trat ihre Zigarette aus. “Bestimmt habe ich ihr jetzt die Psychiaterkosten für die nächsten zwei Jahre erspart. Schocktherapie nennt man so was. Lernt man an der Uni, Jungs. Und nun holt endlich mal das Vieh weg!”

Mit dem toten Waschbär im Kofferraum rollten die Polizeibeamten vom Grundstück der Tierärztin. “Das ist ja eine Granate.” Furgall sah den fahrenden Herbener von der Seite an. “Hattest du mal was mit ihr? Die war ja sehr freundschaftlich zu dir.”

“Alte Geschichte.” Herbener gab Gas und preschte durch die Vorstadt. “Sie war mal ‘ne ganze Zeit wild auf mich. Das hat sich aber gegeben.” Furgall starrte nachdenklich durch die Windschutzscheibe. “Würde mal sagen: da hast du Glück gehabt.” “Ja”, seufzte Herbener und beschleunigte den Omega noch mehr. Mit mehr als 80 Stundenkilometern raste er der Wache entgegen. “Denkst du eigentlich noch daran, dass wir ‘ne Leiche im Kofferraum haben?” Furgall blickte wieder zu Herbener. “Mit dem Vieh brauchst du gar nicht erst auf die Wache zu fahren. Wenn das der Obermeier mitkriegt, können wir den Kadaver auf eigene Kosten zum Abdecker bringen. Du weißt genau, was das für ein Paragraphenreiter ist.” “Du hast recht.” Herbener nahm den Fuß etwas vom Gas. “Hast du eine Idee, was wir mit dem Vieh machen können? Einfach in den Wald schmeißen wäre doch die beste Lösung, oder?” Furgall dachte nach: “Einfach, ja. Fahr doch mal da vorn rechts ab, da kommen wir an einem kleinen Waldstück vorbei.” Nach einer kleinen Pause fuhr er fort: “Normalerweise hätte sich die komische Frau um den Kadaver kümmern müssen. Schließlich war sie es, die ihn angefahren hat. Ich hätte ja nicht übel Lust, ihr den Waschbär vor die Haustür zu legen.” “Du willst deine Pension aber noch erleben, oder?” erwiderte Herbener. “Wenn das rauskommt – und ich sage dir: das kommt raus – können wir uns als Privatdetektive selbstständig machen.” “Toll, das wollte ich immer schon” begeisterte sich Furgall. “Weißt du, wo sie wohnt?” Herbener verlangsamte das Fahrzeug und steuerte in die Bucht einer Bushaltestelle. “Wieso hältst du hier an? Bis zum Wald sind es noch 3 Kilometer.” Herbener holte tief Luft. “Verarsch’ mich nochmal und du kannst dir einen anderen Partner suchen.” Er schaltete die Scheinwerfer aus und sah sich prüfend um. Die Haltestelle lag zwischen der Stadt und Dillich, an der Zufahrtsstraße zu einem Gutshof, der 2 Kilometer von der Landstraße entfernt hinter drei Hügeln lag. Alles war ruhig und lag in tiefer Dunkelheit. “Genausogut können wir das Vieh auch gleich hier lassen.” Herbener stieg aus, ging zum Heck des Wagens und machte den Kofferraum auf. Aus einem Seitenfach nahm er zwei Paar Einweghandschuhe und zog sich ein Paar über. “Los, Peter. Pack mal mit an!” Zusammen nahmen sie die Leiche heraus. “Und jetzt?” fragte Furgall. “Sollen wir den einfach in den Graben schmeißen?” Herbener grinste. “Du hast mich da auf eine Idee gebracht. Pass mal auf!” Er packte das tote Tier im Genick und trug es zur Sitzbank des Bushaltehäuschens. “Halt mal die Taschenlampe hoch, ich seh’ nichts.” Nach wenigen Minuten trat Herbener zurück und betrachtete sein Werk. Der Waschbär hockte auf der Bank wie ein Mensch. Sitzend, die Hinterläufe breit nach vorn gespreizt, die Vorderpfoten lagen auf dem Bauch und umschlossen die aus der offenen Bauchdecke ragende Darmschlinge. Das Maul war leicht geöffnet und die bläuliche Zunge hing schlaff heraus. “Nicht schlecht, Alter!” rief Furgall bewundernd. “Herr Bär wartet auf den Landbus!” Plötzlich strich ein Lichtstreif über die Szenerie. Erschrocken drehten sich die Dramaturgen um. Es waren die Scheinwerfer eines sich nähernden Autos. Schnell warfen sie dir Handschuhe in den Kofferraum, die Plane dazu und sprangen in den Wagen. Bevor das nahende Auto nach zwei Steigungen und drei Hügeln die Haltestelle erreichte und vorbeifuhr, war der Polizeiwagen schon längst außer Sicht.

Grönland

Aäintschi gähnt. Es ist fast zwanzig Uhr. Im Bundeskanzleramt hat die Kantine jetzt Feierabend. Daran muss die Kanzlerin denken, als sie sich vom Schreibtisch erhebt und den Rücken streckt.

„Hoffentlich ist daheim der Kühlschrank nicht leergefressen“, denkt sie. Die neue Haushaltskraft von irgendwo hinter dem Uralgebirge hat noch nicht so richtig verstanden, alle ihr zugetragenen Aufgabenbereiche vollständig zu erfüllen.

Am liebsten kümmert sie sich um die erotischen Bedürfnisse des Kanzlergatten, obwohl das in ihrem Arbeitsvertrag ausdrücklich als Nebentätigkeit vermerkt ist. „Nun, Hauptsache der Kerl bleibt bei Laune.“ Aäintschi drückt die Sprechtaste zum Vorzimmer.

„Lisa, rufen Sie bitte den Kevin. Ich möchte jetzt nach Hause!“

„Sofort, Frau Merkel. Kann ich dann auch Schluss machen?“

„Erst wenn Sie die Vorauswahl der Bewerbungen der Ghostwriter getroffen haben. Wieviel müssen Sie denn noch durchlesen?“

„Ungefähr dreißig.“

„Na, die schaffen Sie locker in einer halben Stunde. Meinetwegen machen Sie den Rest morgen. Der Einsatzplan der nächsten Woche für die Bodyguards wird aber sofort fertiggemacht. Ich will ihn sehen, wenn ich gleich gehe. Und morgen um zehn Uhr bin ich wieder hier und dann will ich nur vernünftige Bewerbungen auf dem Tisch haben!“

„Selbstverständlich, Frau Merkel. Danke schön!“

Aäintschi trennt die Verbindung und steht auf. Die schmalen Lippen hat sie zu einem fiesen Grinsen auseinandergezogen. Der frechen Lisa hat sie es wieder gezeigt! Hach, wie fein ist es, so eine unbeschränkte Macht zu haben! Sie greift nach ihrer Handtasche, schaut hinein. Gut zu wissen, in welcher Ecke das Pfefferspray liegt. Sie hat zwar volles Vertrauen in ihre Bodyguards, vor allem in Kevin, den blonden Recken, aber als vorsichtige Frau traut sie jedem Kerl alles zu. Die Sprechanlage summt. Das Vorzimmer.

„Was will die dumme Kuh denn jetzt noch?“ Sie ignoriert den Summton und geht auf die Vorzimmertür zu. Gerade in dem Moment, als sie die Hand an den Türgriff legt, fliegt die Tür auf und knallt ihr an die Strähnenfrisur. Da liegt sie nun und zwischen ihren Beinen strampelt ein kleiner, glatzköpfiger Mann, den der Schwung nach vorn und auf sie gerissen hat. Im schnellen Reflex schleudert Aäintschi die Handtasche mit Wucht an seinen Kopf.

„Au! Das tut weh!“ Der Mann bemüht sich aufzustehen. Das ist nicht so leicht, denn Aäintschi wirft sich hin und her, wohl in der Absicht, den mutmaßlichen Attentäter abzuschütteln. Endlich gelingt es ihm, sich aufzurichten.

Schwer atmend reicht er Aäintschi die Hand.

„Frau Merkel! Was für ein Unglück! Es tut mir so leid! Kommen Sie, ich helfe Ihnen hoch!“

Aäintschi ergreift die Hand, macht sich aber absichtlich schwer, um den kleinen Mann zu ärgern. Sie hat jetzt nämlich gemerkt, wer das ist und prompt setzt ihr politischer Instinkt ein und befiehlt ihr: „Erniedrige ihn! Erniedrige ihn!“

Tatsächlich bekommt der Herr Gysi einen sehr roten Kopf von der vergeblichen Anstrengung, sie hochzuziehen. Doch nun ist Kevin da und drückt ihn zur Seite. Schwupps, schon hat der taffe Bodyguard die Kanzlerin wieder auf die Beine gestellt. Entrüstet dreht er sich zu Lisa um, die fassungslos mit offenem Mund und hilflos im Vorzimmer steht.

„Was ist denn hier los! Wie konnte das denn passieren?“

Lisa ist den Tränen nahe. „Er war plötzlich da. Rief nur: ‚Ich muss zu ihr, sofort!‘ Ich konnte gar nichts machen!“

„Nun lassen Sie mal die junge Frau in Ruhe!“ Gregor Gysi versucht, dem Bodyguard auf die Schulter zu klopfen. Seine Hand reicht nur bis zu dessen Ellbogen, obwohl er schon auf den Zehen steht. Egal. Entschlossen wendet sich Herr Gysi zu Aäintschi. „Frau Bundeskanzlerin! Ich muss Sie ganz dringend sprechen! Es geht um Deutschland! Es geht um Europa!“

Aäntschi humpelt zu ihrem Schreibtisch und hält sich die rechte Hüfte. Hoffentlich ist ihrem neuen Hüftgelenk durch den Sturz nichts passiert. Die Schmerzen halten sich jedenfalls in Grenzen.

„Kommen Sie, Herr Gysi. Kevin, mach‘ die Tür zu. Übrigens: Wenn du schon nicht selbst auf mich aufpassen kannst, weil du dir in der Besenkammer einen runterholst, solltest du für Ersatz sorgen. Das war eben richtig Panne. Stell‘ dir vor, der Seehofer wäre hier reingeplatzt. Dann wäre ich jetzt vielleicht tot und du in U-Haft!“

Demütig schließt Kevin die Tür. Herr Gysi lässt sich in einen der schönen Besuchersessel fallen und wischt sich mit einem Stofftaschentuch die schweißfeuchte Stirn.

„So, Herr Gysi. Nun erzählen Sie mal. Wollen Sie auch einen Schnaps?“

Aäintschi öffnet die Bar und nimmt eine glasklare Flasche heraus. „Wodka?“

„Sehr gern, Frau Bundeskanzlerin.“

Mit zwei gut gefüllten Wassergläsern voller Lebenselexier geht sie zu Herrn Gysi in die Besucherecke und nimmt ihm gegenüber Platz.

„So. Prösterchen Herr Gysi!“

Die Gläser erklingen dumpf beim Zuprosten. Zufrieden und entspannt lassen sich die beiden in die gemütlichen Sessel zurückfallen.

„Haben Sie schon davon gehört, dass der Trump Grönland kaufen will?“

„Jetzt wollen Sie mich aber veräppeln, oder?“ Aäintschi ist verdutzt.

„Twitter ist nicht so Ihr Ding, oder?“ Herr Gysi nimmt langsam Fahrt auf. „Ganz frisch. Kaum hatte ich es eben gelesen, kam mir gleich eine sehr gute Idee, die ich unbedingt mit Ihnen besprechen wollte, bevor ich es wieder vergesse.“

„Was will denn der Trump mit Grönland?“

„Bodenschätze. Gas. Militärstützpunkt. Vielleicht. Ich tippe ja eher auf Gefangenenlager und Abschiebemöglichkeit für illegale Einwanderer. Das ist aber egal, Frau Merkel! Die Dänen werden Grönland nicht verkaufen. Außerdem blökt der Trump nur wieder dumm. Vielleicht hat er in der letzten Nacht einen Traum gehabt, in dem Rentiere und Eisbären vorkamen. Das kann man nicht ernst nehmen.“

„Warum sind Sie dann so aufgeregt?“

„Weil er mich auf eine gute Idee gebracht hat!“

„Dann raus damit, Herr Gysi! Es war ein langer Tag und ich will endlich nach Hause!“

Gregor Gysi holt tief Luft. „Also, Frau Merkel. Der Trump will Grönland kaufen. Ist zwar unrealistisch, aber theoretisch und praktisch durchaus machbar. Jetzt kommts: Was wäre, wenn wir, also die Bundesregierung, ein tolles Angebot an Italien machen würde: Wir kaufen Sizilien!“

Herr Gysi strahlt Aäntschi an. Die Bundeskanzlerin ist sehr verdutzt.

„Das verstehe ich jetzt nicht, Herr Gysi.“

„Ja Frau Merkel, Sizilien! Heimat der Mafia. Urlaubsparadies. Und vor allem: Armenhaus Italiens!“

„Das weiß ich doch alles, Herr Gysi. Ich bin schließlich nicht doof!“

„Das denken aber Viele.“

„Sie etwa auch, Herr Gysi?“

„Selbstverständlich nicht, Frau Merkel. Allerdings brauchen Sie manchmal einen Schubs, damit’s was wird. Deswegen bin ich doch hier, Menschenskind! Kriege ich noch einen Wodka, bitte?“

„Erst wenn Sie mir endlich erklären, was Sie mit Sizilien wollen!“

„Kaufen. Sagte ich doch schon. Prima Insel im Mittelmeer. Ich frage mich: Wird Italien die Insel an Deutschland verkaufen wollen? Was können wir im Gegenzug anbieten?“

„Aber warum sollten wir denn Sizilien kaufen wollen? Wir haben doch selber schöne Inseln!“

„Der Begriff ‚Schönheit‘ ist relativ, aber gut: Helgoland und Rügen und so sind zwar nett, liegen aber nicht im Mittelmeer!“

„Mittelmeer.“ wiederholt Aäntschie nachdenklich. Herr Gysi schaut sie erwartungsvoll an.

„Mittelmeer!“ ruft Aäntschie und klatscht in die Hände. „Herr Gysi, Sie sind ein Genie! Wenn Sizilien deutsch wäre, könnten wir die Mafia erledigen, Olivenbäume pflanzen, die deutsche Leitkultur etablieren. Sogar eine Raketenbasis bauen und eine tolle Chemiefabrik errichten. Wir könnten …“

„Flüchtlinge aufnehmen“, unterbricht sie Herr Gysi. Er lächelt verschmitzt und blinzelt Aäintschie erwartungsvoll an. Die Kanzlerin hat den Mund noch offen. Für den Moment ist sie sprachlos. Als sie dann reden will, weiß sie nicht, was sie sagen soll und öffnet und schließt den Mund wie ein Fisch auf dem Trockenen. Herr Gysi ist nett und hilft ihr auf die Sprünge:

„Seenotrettung. Alle Mittelmeerhäfen sind dicht. Nur nicht auf Sizilien, denn das ist deutsch und die Rettungsboote können sofort an der richtigen Stelle anlegen, nicht weit von Afrika weg. Und die Geretteten können gleich in Deutschland – denn: Sizilien ist 17. Bundesland – Asyl beantragen, wenn sie wollen!“

„Natürlich wollen sie!“ Aäintschie hat die Sprache wiedergefunden. „Alle wollen nach Deutschland, weil sie es bei uns so gut haben!“

„Ja, und wir sparen viel Geld, weil wir der Türkei und den anderen Ländern keines mehr geben, damit sie die Flüchtlinge bei sich behalten. Und, was das Allerschönste ist…“ Herr Gysi macht eine Pause.

Tatsächlich wird Aäintschi sofort ungeduldig. „Ja was denn, Herr Gysi, so reden Sie doch schon!“

Ungeduldig rutscht sie im Sessel. Das ganze Gerede über so viel Wasser – sie muss dringend auf die Toilette.

„Was denken Sie denn, was uns Sizilien kosten wird?“

„Weiß nicht. 20 Milliarden?“

„Sachsen!“

„Wie, Sachsen?“

„Sachsen! Können die Italiener kriegen! Ist das nicht wunderbar? Ich kann mir fast nichts Schöneres vorstellen: Wenn die Muttersprache der Sachsen italienisch wird!“

„Herr Gysi, Sie haben eine wunderbare Phantasie! Nur – Sie haben vorhin von Sizilien als 17. Bundesland gesprochen. Wenn die Italiener Sachsen kriegen, haben wir doch wieder nur 16.“

„Stimmt, da habe ich nicht dran gedacht. Doch daran wird die Welt nicht untergehen, daran nicht! Weiß außer uns beiden ja niemand, dass ich damit nicht gerechnet habe. Bitte vielmals um Entschuldigung.“

„Macht ja nichts, Herr Gysi. Im Großen und Ganzen finde ich Ihre Idee ganz toll. Jetzt haben wir endlich eine Möglichkeit gefunden, den armen Flüchtlingen schnell und gut zu helfen. Der Seehofer wird im Dreieck springen!“

„Im Bermuds-Dreieck, hehe! Auf Nimmerwiedersehen!“

„Sie sind böse, Herr Gysi. Der Seehofer ist auch nur ein Kind seiner Zeit.“

Die Sprechanlage läutet. Etwas schwerfällig steht Aäintschi auf und geht an ihren Schreibtisch. „Ja, was ist denn, Lisa?“

„Die Frau Gysi ist hier und will ihren Mann zurück!“

„Um Himmels Willen! Der ist doch freiwillig hier und nicht in Gefangenschaft! Sag‘ ihr, er kommt gleich.“

Sie drückt auf den Aus-Knopf der Anlage und dreht sich zu Herrn Gysi um. Da läutet das rote Telefon. Das rote Telefon hat noch nie geläutet. Sie wusste bis jetzt überhaupt nicht, dass es läuten kann. Der Klingelton ist schrecklich laut und unmelodiös, unheilverkündend. Sie nimmt den Hörer ab.

„Merkel“, sagt sie vorsichtig.

„Aäintschi!“ Es ist Annegret Kramp-Karrenbauer, die gute Verteidigungsministerin. „Aäintschi! In Dresden ist die Frauenkirche eingestürzt!“

„Na toll!“ Aäinschi blickt zu Gysi, der sich schon wieder einschenkt.

„Das war’s dann wohl. Ohne die Frauenkirche ist ganz Sachsen nichts mehr wert. No church, no deal, würde Trumpi sagen.“

„Hä? Aäintschie? Alles gut?“

Die Kanzlerin legt auf. Sie zieht den angetrunkenen Herrn Gysi aus dem Sessel und schiebt ihn in das Vorzimmer.

„Schönen Dank, Herr Gysi! Besuchen Sie mich bald wieder, Herr Gysi! Kevin! Wo steht der Wagen? Ich will nach Hause!“

Freiheit für Angela Merkel!

„Schnickischnucki?“

„Ja, Aäintschi, mein Wonneproppelmäuschen?“

„Ich möchte heute nicht an die Arbeit!“

„Bist du krank?“

„Nein.“

„Dann musst du.“

„Muss ich nicht.“

„Doch, musst du!“

„Muss ich nicht!“

„Das Volk erwartet aber, dass du es führst.“

„Will heute nicht führen, nur verführen!“ Sie packt ihn an die Eier.

„Au, nicht so fest! Der Zeckenbiss von gestern tut noch so weh!“

„Du bist zu empfindlich.“

„Bin ich nicht.“

„Bist du doch. Zeig mal die Wunde.“

„Ist nicht so schlimm.“

„Na dann!“

Sie langt nochmal hin und diesmal unterdrückt er den Schmerz. Ist wirklich nicht so schlimm, denkt er. Gut, dass die Frau so schwach ist. Schlecht im Zupacken, das weiß mittlerweile die ganze Welt.

Da klingelt es an der Haustür und die erotische Situation verpufft. Es ist Kevin, der smarte Boddigard. Draußen steht die gepanzerte Limousine, ihr Fahrstuhl in die Hölle der Politik.

„Was machsten heute?“ Er pustet ihr eine aus zwei dünnen Haaren bestehende Strähne aus dem Gesicht.

„Weiß nicht“, sagt sie trotzig. Dann dreht sie sich um, öffnet die Tür, lässt sich von Kevin zum Wagen bringen. Eine kleine Träne kullert ihr über die Wange. Sie wäre so gern mal Pipi Langstrumpf. Oder Greta Tumsberg oder wie die heißt. Oder Sara Wagenknecht. Nee, nicht alles von der, die Möpse würden schon reichen. Und die Haare. Und die Beine. Sie schluchzt. Aber sie reißt sich zusammen. Das Volk ruft – sie wird gebraucht und das hat sie so wahnsinnig gern.

Freiheit ist auch Freiheit zur Selbstzerstörung.

Krznfach

Diese Geschichte entstand aus der undeutlichen Artikulierung des Satzteils „Kurt sein Fach“. Wer ihn so aussprach, dass er wie “ krznfach“ klang, ist nicht mehr bekannt.

Krznfach

Krznfach ist eine neue Sportart. Sie entstand in den Elendsvierteln von München. Komme niemand mit dem Spruch, in München gäbe es keine Elendsviertel. Was ist denn Schwabing sonst? Muss denn Elend immer Körperliches und Bauliches meinen? Ich meine: Nein. Als wenn es kein geistiges Elend gibt! Und das finden wir vorzugsweise eben in Schickimickisiedlungen, das ist doch klar.

Dieses Krzfnach hat so ein Elender erfunden, der als lebensfroher Sohn eines superreichen Stinkstiefels nichts anderes zu tun gehabt hat, als die weiblichen Angestellten seines Daddys zu vögeln. Als er mal wieder so richtig schön berauscht von gutem Koks und Whiskey pur war, lief er gegen den Pfosten einer Teppichklopfstange. Die heutige Jugend wird so etwas nicht mehr kennen. Damals, als noch Mietskasernen gebaut wurden, in denen Leute lebten, die noch keinen Staubsauger hatten, gab es diese Dinger in jeder Außenanlage.  

Jedenfalls befand sich die Teppichklopfstange gleich neben dem Wäscheleinenplatz und dem Zugangsweg zur Haustür der duften Biene, mit der er sich die ganze Nacht im Vergnügungsviertel Münchens herumgetrieben hatte. Der Rumms gegen die Stange hatte ihn genügend ernüchtert, um dem Mädel nochmal seine Potenz beweisen zu wollen. Das fand das Mädchen aber nicht gut und hat gesagt: Du bist so besoffen, du kannst bestimmt keinen einzigen Klimmzug machen.

Der elende junge Mann zog sich an der Teppichklopfstange hoch. Übermütig stützte er sich auf die Stange und beugte den Oberkörper  für einen Umschwung nach vorn. Da knallten die Drogen aber voll in ihn rein. Er sackte zusammen, und blieb bäuchlings auf der Stange hängen. Bei Sonnenaufgang hing er immer noch, splitterfasernackt. Das Mädel hatte ihm, richtig gemein, alle Sachen ausgezogen und war schlafen gegangen.

So fand ihn ein mittelprächtiger Sportlehrer. Der war sehr begeistert von der Hängefigur. Sofort veranlasste er eine Studie, die den Gesundheitsaspekt dieser abgehängten Körperhaltung erforschen sollte. Das Ergebnis war sehr gut. Die Berichterstattung in der Blödzeitung mit vielen schönen Fotos sorgte für den deutschlandweiten Nachahmeffekt. Alle Leute wollten das sofort selbst ausprobieren.

Heute juckt es niemanden mehr, wenn nackte Leute stundenlang über Gartenzäunen, Stuhllehnen oder anderen Gegenständen hängen. Mittlerweile gehören Teppichklopfstangen zur Mindestausstattung jedes Mehrgenerationenplatzes. Ihr wisst schon, wo die alten Leute noch so ein bisschen mit komischen Geräten rumturnen können. In manchen Städten werden die Abhängestangen (so heißen die jetzt im deutschsprachigen Raum. Klingt viel besser und trefflicher als „drop-rod“, was die Amis dafür sagen) mitten in Fußgängerzonen aufgestellt. Vorbeigehende sind angehalten, den Hängenden ruhig ein bisschen auf den Popo zu klopfen. Wegen der Durchblutung. Gemeine Stimmen behaupten, vorzugsweise alte geile Säcke würden das gern bei Frauenpopos machen. Das ist noch nicht so richtig erforscht. Fakt ist, beides macht Spaß: Krznfachen und Popoklopfen. Es ist so wunderbar, sich mal so richtig schön hängen zu lassen. Du aktivierst Muskeln, da hast du vorher gar nicht gewusst, dass es die gibt. Das Blut schießt in den Kopf und das Denken … ja das Denken macht wieder richtig Freude! Hinterher, wenn alles vorbei ist (eine halbe Stunde muss das schon mindestens gemacht werden und am besten da, wo gute Popoklatscher sind), braucht es am besten jemand, der einen von dem Gerät wegzieht. Es macht nämlich süchtig! Das hat die Blödzeitung nicht geschrieben. Es ist wichtig, dass einem das gesagt wird, sonst bleibt im Hirn alles beim alten oder wird noch schlimmer, wenn man sich selbst beim Hängen vergisst. Es soll schon Todesfälle gegeben haben, aber mein Gott, die gibt es auch beim Fußballspiel. Also: Krznfach mal wieder!

Ori

Samstag, morgens

Ori war tot.

Der Kleine lag reglos hinter der Tür des Hasenstalls.

Die anderen sprangen in Vorfreude auf ihre morgendliche Fütterung hin und her. Die dicke Wilma hoppelte auf Oris Flanke. Dem toten Hasen entwich ein letzter Pups.

Erwin hielt die Luft an. Erst nach vorsichtigem Schnuppern kam er näher, um durch den engen Draht der Tür einen besseren Blick zu bekommen. Komisch. Äußerlich konnte Erwin nichts erkennen.

Dass Hasen sich gegenseitig totbeißen können, darüber stand etwas in einer Ausgabe der Zeitschrift »Mein Haustier«, die er vor ein paar Wochen im Wartezimmer seiner Zahnärztin unter einem Stapel Modejournale herauszog. Den Artikel fand er dermaßen spannend, die Zahnarzthelferin musste Erwin dreimal aufrufen, so sehr war er in die Lektüre vertieft. Vor allem bei Nahrungsknappheit und extremer Unterernährung sollte es vorkommen: Hasenkannibalismus.

Die Vorstellung, seine lieben Hasen könnten Ori getötet haben, war unvorstellbar! Alle Tiere sahen wunderbar rund aus wegen der üppigen Speisekarte! Erwin öffnete die Tür des Stalls, nahm das tote Tier vorsichtig hoch und untersuchte es gründlich. Keine erkennbaren äußere Verletzungen. Sanft drückte er Ori an die Brust. Weich und seidig wie ein Plüschtier. Der schlaffe Körper gab etwas Wärme ab.

Über das Fell streichelnd sagte er leise:

»Du Armer. Was ist denn mit dir passiert?«

Gestern, bei der Versorgung der Hasen kurz vor Sonnenuntergang, hatte der süße Ori zwei Extrakarotten bekommen. Die erste fraß er Erwin gleich aus der Hand. Mit der zweiten verzog sich der Kleine in eine Ecke, um sie in Ruhe zu verzehren. Kerngesund war das Häschen. Kein Wunder bei den vielen Vitaminen.

Der plötzliche Tod war Erwin ein Rätsel. »Wenn Kevin und Miriam davon erfahren, wird es Tränen geben.«

Mit der rechten Hand hielt Erwin das Tier vor den Bauch gedrückt, mit der Linken zog er ein Büschel Stroh unter dem Hasenstall hervor. Sorgfältig breitete er es in der nebenstehenden Schubkarre aus. Den toten Ori legte er auf die weiche Unterlage und betrachtete sein Werk.

»Ein bisschen sieht er aus wie Jesus in seiner Krippe. Fragt sich nur, wer ich bin – Ochs oder Esel?«

Der große, hart und selbstsicher erscheinende Mann konnte auch sentimental sein. Versonnen streichelte er mehrmals über Oris weiches Fell und kraulte den Kopf ein wenig zwischen den schlaff herunterhängenden Löffeln. Dies hatte das Tier besonders gern gemocht. Kevin, der sechsjährige Sohn, war aber der beste Zwischen-den-Ohren-Streichler. Kevins Streicheltalent entlockte Ori Töne, ähnlich dem Schnurren einer Katze. Die schwarzen Äuglein waren bei der Liebkosung weit geöffnet und schimmerten in feuchtem Glanz. Wenn Miriam, seine große Schwester, das Gleiche tun wollte, war er immer zappelig und in Fluchtbereitschaft, weil die Neunjährige sehr rabiat zugriff. Erwin traten Tränen in die Augen, als er daran dachte, wie die Kinder den plötzlichen Tod von Ori aufnehmen würden.

Mit Blick auf die Armbanduhr stellte er fest, dass bis zum Aufstehen der Kinder Zeit blieb. Die Ziffern zeigten erst halb sechs an. Recht früh für einem Samstag mitten im Mai. Gestern Abend hatten die Beiden mit ihren Freunden lange auf der Straße gespielt. Völlig erschöpft fielen sie in die Betten.

Erwin gab den anderen Tieren ihr Futter, füllte die Wasserflasche und befühlte durch die Puma-Jogginghose gedankenlos den lästigen Pickel.

Unsicher befingerte er die infizierte Pobacke. Die Untersuchung erfolgte gründlich. Gerade als Erwin erleichtert eine beginnende Eintrocknung feststellte, ließ ihn das metallene Zuschlagen einer Gartentür einige Häuser entfernt aufschrecken.

Mit hochrotem Kopf blickte er um sich. Gleichzeitig ließ ihn ein Stechen am Herz die Luft anhalten. Die Hand flog aus der Hose zur Brust. Er versuchte, vorsichtig ein- und auszuatmen. Erst langsam, dann mit immer tieferen Atemzügen. Das half. Nur noch ein leises Prickeln war in der Herzgegend zu spüren. Erwin schwitzte in der morgendlichen Kühle.

Der Termin beim Internisten stand für übernächsten Mittwoch fest. Nach dem ersten Ereignis Anfang Januar war dies der dritte Anfall innerhalb eines halben Jahres. Langsam bekam er Angst.

»Wenn es kommt, dann aber dicke!« dachte er.

Erst das Herzproblem, danach der Pickel am Po, jetzt der tote Ori. Das hätte ihm noch gefehlt, beim Herumfummeln am Hintern erwischt zu werden! Mindestens zwei Nachbarn hatten einen guten Einblick in seinen Garten. Davor hatte ihn Frau Kilian hoffentlich rechtzeitig bewahrt.

Die schwergewichtige Zeitungsausträgerin übte ihre frühmorgendliche Tätigkeit alles andere als rücksichtvoll aus. Der Lärm, den die Müllwerker alle vierzehn Tage machten, war nichts im Vergleich zu dem Krach, mit dem Frau Kilian in ihrem Austragbezirk unterwegs war. Die Zeitungen transportierte sie in einem Fahrradanhänger, den sie hinter sich her zog. Wenn sie schlurfend eine Zustelladresse erreichte, glitt ihr immer die Deichsel des Karrens aus der Hand. Der Anhänger schlug scheppernd mit der Vorderkante auf das Straßenpflaster.

Erwins Freund Horst, der zwei Straßen weiter wohnte, regte das kaum auf.

»Besser wie ein Wecker mit Schlummerfunktion«, hatte er Erwin erklärt. Eine halbe Stunde dauerte es vom ersten krachenden Aufsetzen des Anhängers bei Erwin im Tulpenweg bis zum Finale vor Horsts Haustür in der Brüder-Grimm-Straße. Dreizehn Abonnenten, dreizehn Rappelschläge, einer lauter als der andere. Dann war Zeit zum Aufstehen.

Nebentöne, wie das Zuknallen von Gartentüren und Briefkastendeckeln, vervollständigten das Klangereignis, das Frau Kilian den Dorfbewohnern jeden Morgen, außer Sonntags, bescherte.

Erwin blickte zu den Nachbarhäusern. Bei allen Fenstern, von denen aus der Garten einsehbar war, deuteten die geschlossenen Rollos auf tiefen Schlaf der Hausbewohner hin. Das war beruhigend. Gegenüber seinem ungeliebten Nachbarn, dem widerlichen Stinkstiefel Hartmut Hass, wollte Erwin sich keine Blöße geben. Wie konnte er nur so leichtsinnig sein! Wenn der Hass das beobachtet hätte! Jedes fiese Grinsen dieses Widerlings könnte ab jetzt: ›Ich habe gesehen, was du getan hast‹ bedeuten. Das Gespött der Nachbarschaft wäre ihm sicher. Der Hass war richtig gut im Leute-gegeneinander-aufhetzen.

Erwin seufzte. Immer den Anstand wahren zu müssen, selbst auf dem eigenen Grundstück, empfand er als anstrengend. Zum Glück wuchs in der südöstlichen Gartenecke, neben dem Hasenstall, eine kleine Gruppe Haselsträucher. Ein schönes Versteck, in dem der Frühaufsteher nach dem Versorgen der Hasen, hin und wieder seinen Morgenurin abschlug. Die Brennnesseln wuchsen üppig. An Regentagen roch es ein wenig wie Salmiak. Niemand ahnte bisher das Geheimnis. So sollte es bleiben.

Der Ori. Der war in der Aufregung völlig in Vergessenheit geraten. In der großen Gartenschubkarre sah der Hase recht mickrig aus. Obwohl Erwin sich Mühe gegeben hatte, die Hasenleiche stilvoll auf die Strohunterlage zu legen, gab er keinen schönen Anblick ab.

»So kann das nicht bleiben! Der muss später beerdigt werden. Dafür brauche ich einen Sarg.«

Er ließ die Karre stehen. Zunächst ging er auf der Suche nach passendem Material für den Hasensarg in die Garage. Das Wandregal enthielt jede Menge Kisten. Alle voller wichtiger Sachen wie Schrauben, Farben und Utensilien zur Wagen- und Gartenpflege. Aber obenauf in der offenen Altpapiertonne lag ein Schuhkarton. Prüfend nahm er die Schachtel heraus. Die Pappe sah stabil aus. Neugierig schaute er auf das Markenzeichen: Wanderschuhe von Luigi Askari, Größe 38.

Erwin wunderte sich über den Fund. Üblicherweise warf Marga solche Dinge einfach aus der Küche durch die Verbindungstür zur Garage. Ordentliches Wegräumen überließ sie gern ihrem Mann, der darüber nie ein Wort verlor.

»Seltsam. Was ist denn mit der los? Hat sie ein schlechtes Gewissen oder will sie was Bestimmtes von mir?« Beinahe wären seine Gedanken in etwas sexuelles abgerutscht.

In einem Anflug kreativer Inspiration stieg er die Treppe zum im Keller hinab. Dort unten hoffte er Besseres als den Schuhkarton zu finden. Die einfache Pappschachtel schien ihm als Sarg für den kleinen Ori sehr einfallslos. Eine stabile kleine Holzkiste wäre gut.

Als Erstes fielen ihm die neuen Flaschen im Weinregal auf. Also war sie gestern nicht nur wegen der Schuhe einkaufen. Enttäuscht wanderte sein Blick weiter auf die in der Ecke stehende Bierkiste. Ein einsames ungeöffnetes Fläschchen inmitten vieler geleerten. Erwin weitete die Augen. Blinzelte der Kronkorken ihm gerade zu? Kurz überlegte er, die Flasche Bier sofort hinunterzustürzen. Vielleicht könnte er mit ein wenig Alkohol das nachher zu erwartende Geheule der Kinder besser verkraften?

»Nein. Es reicht, wenn die Alte trinkt!«

Wer weiß, wieviel ehelicher Frust nach 15 Ehejahren in diesem Satz, heimlich und ungehört im Keller hervorgestoßen, aus ihm herausbrach? Tatsächlich war Margas Alkoholgenuss moderat. Eine Kiste Wein mit 6 Flaschen reichte ihr fast vier Wochen. Erwin trank fast nichts. Diese Kiste Bier stand seit Silvester unverändert.

Es war keine Holzkiste da. Statt dessen sah Erwin zwischen den eingemachten Marmeladengläsern 2 Kisten mit ihm unbekannten Inhalt. Erwartungsvoll zog er die erste aus dem Regal. Klasse! Darin war der Christbaumschmuck, in der anderen gebrauchtes Geschenkpapier.

Die Schuhschachtel wurde zu einem schönen Hasensarg. In der Werkstatt beklebte er den Karton mit dunkelblauem Geschenkpapier. Ein Stück silbriges Kreppband, gefunden in der Kiste mit den Weihnachtskugeln, band er zu einer Schleife und klebte sie auf den Sargdeckel. Den mittlerweile leichenstarren Ori legte Erwin auf den mit Stroh ausgelegten Kartonboden.

»Die Augen sind ja noch offen«, sagte er leise.

»Na, das dürfen nachher die Kinder machen!«

Margas übliche Zeit aufzustehen kam näher. Erwin schob den Sarg in ein Regal, ging in die Küche und deckte den Frühstückstisch. Eine erste Tasse Kaffee schlürfend, las er die Tageszeitung.

»Morgen, Schatz!«

Marga stand im Bademantel hinter ihm, gähnte ausgiebig und küsste seinen Nacken.

»Gut geschlafen, Erwin? Du bist so früh aufgestanden.«

Verschlafen nahm sie gegenüber von ihm am Tisch Platz und füllte ihre Tasse. Halbgeöffnete Augen blickten zu dem Subjekt ihrer Begierde.

»Weißt du, woran ich denke?« Sie sprach leise und seltsam tonlos.

Erwin beugte den Oberkörper nach vorn, vorgeblich, um einen Artikel besser lesen zu können. Der sinnliche Klang der Frage versetzte ihn in Alarmbereitschaft. Den dazugehörigen Gesichtsausdruck kannte er zur Genüge und er hasste ihn. Margas feuchte Zunge fuhr über die Lippen. Ihr Blick war sinnlich trübe, fast verklärt.

»Bevor unsere Kinder kamen, sind wir am Wochenende manchmal kaum aus dem Bett gekommen.«

Erwin lehnte sich zurück und blickte von seiner Zeitung auf. Wenn er sie jetzt ignorierte, könnte sie ihm das Wochenende zur Hölle machen. Das war nichts Neues.

»Bitte nicht schon wieder!« dachte er.

Die Lust auf diese Frau war ihm abhanden gekommen. Die Lust auf jede Frau. Einmal fragte er sich, ob er latent schwul sei, doch Gier auf Männer war ihm fremd. Er hatte es einfach satt: das ganze Gemache mit Bumsen, Wichsen und so. Hin und wieder in den Morgenstunden ein spontaner Samenerguss war Beweis für das Funktionieren der biologischen Grundfunktionenen. Seine Asexualität war ihm zwar unerklärlich, er akzeptierte sie aber problemlos. Marga wusste darüber Bescheid. Trotzdem musste sie wegen der eigenen Sehnsucht ihren Kerl manchmal auf die Probe stellen. Eine schwierige und anstrengende Situation. Glücklicherweise beanspruchten die Kinder so viel Zeit der Eltern, dass die Gegensätzlichkeit der Ehepartner im Hintergrund schwelte. Meistens. Heute morgen nicht.

»Mami, der Kevin hat Tusse zu mir gesagt!«

Erwin stand ruckartig vom Tisch auf, froh über die willkommene Störung. Miriam kam die letzten Stufen der Treppe hinunter und stürzte in seine offenen Arme. Marga presste enttäuscht die Lippen aufeinander.

»Wo ist der Kevin? Ist er in seinem Zimmer?«

Erwin streichelte seiner Tochter das Haar.

»Ich rede gleich mit ihm. So etwas soll er nicht sagen. Obwohl…«

Schmunzelnd nahm er ihren Kopf in die Hände.

»Wenn du wirklich eine Tussi bist, dann jedenfalls eine sehr süße!«

»Papi!«

Lachend zog er sie an den Tisch.

»Komm, iss erst mal was.«

Plötzlich fiel ihm Ori ein. Die gute Laune war weg.

»Übrigens…ich war heute Morgen schon am Hasenstall und…«

Misstrauisch wurde er von Frau und Tochter beobachtet.

»Mein Gott!«, dachte Erwin. »Ist das schwer!«

Vorsichtig fuhr er fort:

»Als ich die Tür öffnete, fiel mir gleich auf, dass was komisch war. Die Hasen hoppelten alle so aufgeregt herum, und dann sah ich auch den Grund. Der Ori war gestorben.«

»Nein!« schrie Miriam.

»Ori kann nicht sterben! Du hast gesagt, das ist unser Hase, der wird nicht gegessen! Du Lügner!«

Dicke Tränen liefen und sie trat nach seinen Schienbeinen.

»Miriam! Ich habe keine Ahnung, warum der Ori tot ist. Ich bin unschuldig. Gestern hat er schöne Karotten für die Nacht bekommen, da ging es ihm sehr gut. Vielleicht hat er einfach einen Herzinfarkt bekommen. Das kann passieren.«

»Das sage ich Kevin!«

Miriam lief auf die Treppe zu, um ihren Bruder zu wecken. Doch Kevin stand bereits oben.

»Was ist denn das für ein Krach? Ich wollte noch ein bisschen schlafen!«

»Kevin! Der Ori ist tot!«

Miriams Schrei war so laut, dass er vermutlich in der ganzen Siedlung zu hören war.

»Nein!«

Kevins Schrei gellte in der Küche.

»Doch!«

Erwins lauter Ausruf war wie ein Donnerschlag.

»Meint ihr, ich mache mit so was Spaß? Kommt, ich zeige ihn euch!«

Die Kinder und Marga folgten ihm in die Garage. Erwin nahm den Hasensarg aus dem Regal.

»Ist er da drin?«

Miriams Stimme war ein leises Flüstern.

Ihr Vater nickte. Zusammen brachten sie den Karton in die Küche. Vorsichtig stellte Erwin ihn auf der Tischplatte ab. Die Familie stand ehrfürchtig um den Tisch und sah gespannt zu, wie er den Deckel hob. Beim Anblick des toten Hasen fingen die Kinder gleich wieder an zu heulen. Marga zog Erwin zur Seite.

»Sag« mal…das ist doch der Schuhkarton von meinen Wanderschuhen? Das hast du aber gut gemacht!«

Stolz küsste sie Erwin auf den Mund. Schmunzelnd sagte sie:

»Du zeigst ja versteckte Qualitäten! Der Sarg ist so schön! Ich hätte nie gedacht, dass du zu so was fähig bist.«

Das Lob geschmeichelte Erwin. Er wurde rot und seine Körperhaltung straffte sich. Er war Tarzan, der Jane aus einer lebensgefährlichen Situation befreite und dafür die Belohnung bekommt – durch die Art, wie sie ihn ansieht.

Inzwischen hatten Kevin und Miriam den Ori aus der Kiste genommen und ordentlich abgeknutscht. Das Ergebnis war ein nasses, von ihren Tränen verklebtes Fellbündel. Ori sah aus, als wäre er versehentlich in der Waschmaschine mitgewaschen worden.

»Kommt, wir rubbeln ihn ein wenig ab und bringen ihn in den Garten!«

Resolut nahm Marga die Sache in die Hand.

»Der Papa kann ja schon mal ein schönes Grab für ihn ausheben! Miriam, sei so lieb und hol den Föhn aus dem Bad. Damit kriegen wir ihn bestimmt ganz schnell trocken.«

Während seine Frau und die Kinder Ori hübsch machten, nahm Erwin einen Spaten und ging in den Garten. Suchend sah er sich nach einem guten Platz für die letzte Ruhestätte von Ori um. Die beste Wahl wäre die Pinkelecke. Davon kam er sofort ab, da er sie liebend gern noch ein wenig nutzten wollte.

»Auf ein Grab pinkeln macht man nicht.«

Dort drüben: die Hecke zu seinem widerlichen Nachbarn Hartmut Hass. Das könnte gehen.

Der hieß mit Nachnamen nicht wirklich Hass, sondern Hasenfuß. Seit einigen Nachbarstreitigkeiten hatte Erwin, insgeheim den Nachnamen auf »Hass« reduziert. Einmal entfiel ihm der Name in Gegenwart seiner Kinder.

»Der Hass hat wieder …« Mit vielen verbalen Verrenkungen war es ihm gelungen, die Kinder abzulenken.

An der Ligusterhecke grub er ein kleines Loch. Sicherheitshalber schaute er mehrmals zum Nachbarhaus hinüber. Sicher schlief der Hass noch. So fies wie der drauf war, könnte er gewaltig Ärger machen, wenn er rausbekam, dass unmittelbar an seiner Grenze ein Tierkadaver verbuddelt war.

»Soll er doch. Und von wegen: Tierkadaver«, dachte Erwin.

»Das wird eine richtig schöne Beerdigung für den lieben Ori!«

In der Kücher sah es aus wie beim Friseur. Überall flogen Fellflusen herum.

»Guck mal, Papa! Der Ori sieht sooo süß aus!«

Miriam zog ihren Vater zum Küchentisch. Erwin war überrascht, wie lebendig und flauschig der Ori aussah. Nur den an trüben Augen war der Tod zu erkennen. Die Unterlage aus weißer Watte ließ in ihm das Bild eines im Wolkenhimmel schlafenden Ori entstehen.

»Wer hat den schönen Kranz aus Gänseblümchen geknüpft?« Erwin bewunderte die Blumenkette um Oris Hals. Kevin bekam einen roten Kopf.

»Das hast du gut gemacht. Beide habt ihr das gut gemacht. Es ist ein schönes Himmelbett geworden! «, lobte Erwin. »Jetzt ist aber die Zeit gekommen, uns von Ori zu verabschieden. Wer will dem Ori die Augen schließen? Er soll doch so aussehen, als würde er nur schlafen, wenn er in den Hasenhimmel kommt. Kevin?«

Unter Tränen schüttelte Kevin den Kopf.

»Darf ich das machen?«

Marga trat näher an den Tisch. Niemand widersprach. Liebevoll strich sie mit der Hand die Augenlider herunter. Als sie die Hand wegnahm und der Hasenkopf wieder sichtbar wurde, sah es so aus, als ob sich das Häschen, müde vom vielen Hoppeln, kurz für ein kleines Nickerchen hingelegt hätte. Allerdings fing er an, etwas aufdringlich zu riechen. Es war ein Duft, vom Grundton wie ein Karnickelfurz, jedoch blumiger, süßlicher. Der beginnende Geruch der Verwesung.

Erwin legte den Deckel auf den Karton.

»Wir müssen ihn noch zunageln!« meinte Kevin. »Das hab« ich mal im Fernsehen geguckt, dass man das macht!«

Bevor Marga überlegen konnte, welche Sendung es gewesen sein könnte, sagte Erwin: »Das wird mit der Pappe nicht gehen. Ich hole mal den Tacker aus der Werkstatt.«

Die Beerdigung wurde sehr schön. Wie im richtigen Leben ging die Familie mit langsamen Schritten über die Terrasse und den Rasen zu der vorbereiteten Grabstätte. Kevin und Miriam waren die Sargträger. Der fleißige Vater musste ein wenig nacharbeiten, weil das Loch viel zu klein war. Zuletzt durfte jeder mit einer kleinen Schaufel etwas Erde auf den Deckel werfen und einen letzten Gruß an das Tier richten.

»Nachher bauen wir ein schönes Kreuz für ihn, ja?«

Marga sah Erwin fragend an. Der zuckte nur die Schultern. So ein Gebilde wäre ein deutliches Signal für den Hass. Aber was sollte er machen?

»Vielleicht reichen ja auch ein paar Blumen?«

»Nein, Erwin, das reicht nicht. Die Pflanzen verwelken, doch ein Kreuz wird uns lange an den lieben Ori erinnern«, sagte Marga bestimmt.

»Ja, Papi, komm, wir fangen gleich an!«

Miriam nahm seine Hand und zog ihn zurück zum Haus.

»Langsam!« mahnte Erwin.

»Lasst uns erst einmal frühstücken. Ich habe wegen dem Ori fast nichts gegessen. Haben wir Nougatcreme in der Speisekammer?«

Später am Tag schmückte ein schlichtes Holzkreuz den kleinen Erdhügel an der Nachbargrenze. Auf der Querlatte stand, mit einem Lötkolben eingraviert: »Ori 21.5.2016«.

Sonntag, morgens

»Bronko! Komm sofort hierher!«

Hartmut lief auf dem feuchten Rasen auf den kleinen Terrier zu.

»Was hast du denn da? Gib das sofort her!«

Erschrocken über seine laute Stimme blickte Hartmut zum Nachbarhaus. Es war Sonntagmorgen, kaum 7 Uhr. Bestimmt schliefen alle Nachbarn noch. Hartmut wollte auf keinen Fall wegen morgendlichem Geschrei Ärger bekommen. Die nervliche Belastung durch die intime Enge der Wohnsiedlung machte ihm sehr zu schaffen.

Vom Leben auf dem Land hatte er sich mehr versprochen. Aufgewachsen in der Großstadt, war seine frühere Vorstellung vom Dorfleben ein Ideal. Freiheit, Weite, Abenteuer. Die Realität sah anders aus. In dieser Wohnsiedlung am Rand von Jesberg, einer kleinen Gemeinde zwischen Kassel und Marburg, konnte er niemals heimlich eine Stange Wasser hinter dem Haus abstellen. Oder am Hintern kratzen. Aus mindestens 5 Häusern heraus lauerten die lästigen Nachbarn auf so eine Gelegenheit.

Hartmut war der geborene Miesepeter. Immer unzufrieden. Mit sich, mit seiner Umgebung. Statt Freude am Erbe seines Onkels zu haben, haderte er oft mit seinem Schicksal.

›Not enough room to swing a cat!‹

Der Spruch aus einem Comic des berühmten amerikanischen Zeichners Robert Crumb fiel ihm immer ein, wenn er an diese unglückliche Situation dachte.

»So einen Hasenstall wie der doofe Erwin müsste ich haben«, überlegte er.

»Dahinter lässt sich bestimmt gut abstrullern. Das kann niemand sehen.«

Neidisch blickte er zum Nachbargrundstück.

Eine kalte Berührung am Fuß riss ihn aus den Gedanken.

Bronko saß schwanzwedelnd und hechelnd vor ihm. Die Beute lag auf Hartmuts nacktem Fußrücken. In einer spontanen Reaktion schleuderte er das scheußliche Etwas weit weg. Dabei rutschte der andere Fuß auf dem nassen Rasen aus. Hartmut beobachtete im Sitzen den Flug des seltsamen Dinges. Bronko flitzte hinterher. Wahnsinn! Der Hund rann extrem schnell, berechnete die Flugbahn. Rechtzeitig saß er vor dem Gartenzaun und sperrte das Maul auf, um das Ding zu fangen. Hartmut entfuhr fast ein Jubelschrei, so sehr begeisterte ihn die Leistung des kleinen Hundes. Langsam versuchte er aufzustehen. Auf allen Vieren kniete er im Gras, als Bronko seine Beute dicht vor Hartmuts Gesicht hin und her schüttelte. Die Besudelung mit ekligen Säften und feuchten Erdbrocken ließ ihn würgen.

Mühsam rappelte er sich hoch.

»Zeig, Bronko! Nein, lass los!«

Hartmut betrachtete die Beute des Hundes genauer. Eindeutig ein Hasenkadaver. Mit richtig viel Dreck am Balg. Wo könnte der Terrier das Ding ausgebuddelt haben? Bestimmt bei dem einzigen Karnickelhalter in der Siedlung, dem bescheuerten Nachbarn Erwin Klingelhöfer! Hartmut nahm dem Hund mit zwei spitzen Fingern den Kadaver ab und trug ihn mit ausgestreckten Arm auf die Terrasse neben den Grill. Hier waren die teuren Betonplatten durch Fettspritzer total versaut. Da kam es auf ein paar Flecken mehr nicht drauf an. Bronko sprang aufgeregt um ihn herum und wollte sich auf den Kadaver stürzen. Hartmut stülpte einen Eimer darüber und lenkte den Hund mit dem Wegwerfen seines Lieblingsbällchens ab. Während der Hund glücklich mit dem Ball spielte, schritt Hartmut prüfend die Grundstücksgrenze ab. Da, hinter der Ligusterhecke: Aufgewühlter Rasen! Daneben ein primitiv konstruiertes kleines Holzkreuz!

»Alle Achtung!«, dachte Hartmut.

»Gibt es jetzt einen Tierfriedhof in der Siedlung? Der hat eine richtige Macke, der Erwin. Wie bescheuert ist das denn, irgendein Karnickel gleich neben meinem Grundstück zu verbuddeln. Der weiß doch genau, wie empfindlich ich auf solche Verstöße gegen die guten Sitten und die Missachtung der gesetzlichen Vorschriften reagiere. Wenn ich ihn anzeige, wandert er in den Knast!«

Er brachte Bronko ins Haus. Im Arbeitszimmer setzte sich Hartmut an den Computer, um einen Brief an den Bürgermeister zu schreiben. Ungeduldig trommelten die Fingerspitzen auf die Tischplatte, bis der alte Rechner Betriebsbereitschaft anzeigte. Eine knappe Viertelstunde flogen die Finger über die Tastatur. Beim Buchstabieren des Wortes »Kadaver« bekam er Schwierigkeiten – und eine gute Idee! Eilig ging er auf die Terrasse.

Der tote Hase kam im Eimer in die Küche. Über den Küchentisch breitete er Plastikfolie und legte die Hasenleiche darauf. Sie stank fürchterlich.

Mit einer Wäscheklammer auf der Nase ging es ans Werk. Eine Stunde und zwei Schnäpse später lief er um den Tisch und bestaunte das Ergebnis von allen Seiten. Der Hase sah aus wie das blühende Leben. Gewaschen, getrocknet, gebürstet, gekämmt. Mit dünnem, fast unsichtbarem Gartendraht versteift, hockte der Hase auf den Hinterläufen und machte »Männchen«. Nur die offenen, trüben Augen passten nicht zu dem Gesamtbild karnickeltypischer Vitalität. Aber sonst… Hartmut war verdammt stolz auf sich.

Gut gelaunt summte er ein Liedchen und peilte von der Terrasse aus die Lage. Draußen war alles ruhig. Sonntags kam sein Nachbar selten vor 9 Uhr aus dem Haus um seine Hasen zu versorgen.

»No risk, no fun!«

Hartmut schnappte den Hasen vom Küchentisch. Kritisch sah er der Leiche in die toten Augen. Wo waren denn die LED-Leuchten der kaputten Kerzenkette?

Sonntag, vormittags

Verschlafen bemühte Erwin sich aus dem Schlafzimmer in die Küche. Was war das Gestern für ein beschissener Tag! Erst der tote Ori, dann die deswegen traurigen Kinder, die den ganzen Tag richtig genervt hatten, abends eine weintrunkene Marga, die ihm die Ohren wegen seiner Nichterfüllung ehelicher Pflichten vollheulte. Vor lauter Frust hatte er bis in die Nacht diverse Horrorfilme gesehen. Gegen seine Gewohnheit trank er 3 Flaschen Bier aus einem Sixpack von der Tankstelle. Ungewöhnlich spät war er an diesem Sonntagmorgen aufgestanden. Mittlerweile musste es mindestens 10 Uhr sein. Im Haus war es ruhig.

Mit einer Tasse Kaffee ging er in den sonnendurchfluteten Garten, um die Kaninchen zu füttern. Von der Terrasse aus sah er die Tiere aufgeregt sein Kommen erwarten. Es war richtig Stimmung in der Bude.

»Wenn heute wieder einer über Nacht verreckt ist, falle ich tot um«, sprach er leise vor sich hin, als er sich dem Hasenstall näherte.

Beim Anblick des wiederauferstandenen Ori, der gleich hinter der Maschendrahttür hockte, das Mäulchen anklagend aufgesperrt, die gelben Schneidezähne gebleckt, die Augen grell blitzend, verengte sich seine Brust.

Nach einem schnellen Seitenblick zu Oris Grab – es sah aus wie von innen heraus aufgebrochen – kam der zweite und letzte kalte Griff an das Herz. Beim Aufschlag seines schweren Körpers auf den Boden hatte ihn das Leben bereits verlassen.

Laura und das offene Ende

Laura war sauer.
»So ein blöder Arsch! Hoffentlich kriegt er den Schwanz abgebissen!«
Sie stürmte in das Büro, schmiss die Tür hinter sich heftig ins Schloss und warf sich in ihren Schreibtischstuhl. Mit hochrotem Kopf trommelte sie mit den Fäusten auf die Schreibtischplatte.
Bettina starrte neidisch auf Lauras Oberweite, die sich mit den fliegenden Armen rhythmisch auf und ab bewegte. Sie selbst war nicht so üppig gebaut, ihr Busen war fast keiner und viel Arsch hatte sie auch nicht in der Hose. Aber wenigstens volle, sinnliche Lippen in einem hübschen Gesicht und eine rauchige, tief klingende erotische Stimme. Wie Laura.
»Ich bin wie sie, nur ohne Titten und Arsch«, dachte sie und stellte sich wieder einmal vor, wie es wäre, wenn sie die üppigen Brüste von Laura streicheln würde und …
»Sag‘ mal, hörst du mir überhaupt zu?«
Ein Bleistift flog über die Schreibtische, traf mit der Spitze Bettinas Brust und fiel zu Boden.
»Aua! Hast du sie noch alle! Das hätte auch ins Auge gehen können!«
Wütend griff Bettina ihr Diensthandy und warf es Laura an den Kopf. Die versuchte noch auszuweichen, doch Bettina war einfach zu gut im Werfen. Schon immer gewesen. Jedes Jahr Erste bei den Bundesjugendspielen. Keine Titten, kein Arsch, alles nur strammes Muskelfleisch, gute Koordination und Reaktion. Daher kippte Laura leise seufzend aus dem Sessel, als das Handy sie voll an der Schläfe erwischte. Gerade in diesem Moment, als Laura auf den Boden rutschte und Bettina aufsprang, um sich den Schaden anzugucken, ging die Bürotür auf. Manni Kempf stürmte herein.
»Mädels! Habt ihr schon gehört? Der Ratzevogel will … was ist denn hier passiert? Laura?«
Doch da war Bettina schon an ihm vorbei um den Schreibtisch gestürmt und beugte sich über ihre Kollegin.
»Hol‹ mal den Verbandkasten aus dem Schrank im Flur!«
Bettina schob vorsichtig LaurasLockenpracht zur Seite und suchte nach der Kopfverletzung. Es war er nicht mal ein Kratzer zu sehen.
»Gutes Outdoorhandy mit Gummipuffer, danke schön«, murmelte Bettina und streichelte Laura an der verletzten Stelle, die sich leicht bläulich verfärbt hatte. Da bemerkte sie, dass Manni immer noch in der Tür stand. Hatte der jetzt die ganze Zeit auf ihren Hintern geglotzt?
»Manni, du Spanni, flitz‹ endlich los!«
Manni erwachte aus seiner Starre, machte den offenen Mund zu und lief raus. Im Flur vergewisserte er sich schnell, dass niemand zu sehen war, dann fuhr seine Hand in die Hose und rückte den halb erigierten Penis zurecht.
»Klasse, klasse!« flüsterte er heiser. »Von diesem Arsch werde ich heute Nacht träumen!«
Vor seinem geistigen Auge war immer noch der knackige kleine Frauenhintern und – verdammt verschärfend – eine Handbreit nackte Haut über dem Hosenbund, weil Bettinas Bluse sich beim Bücken über die bewusslose Laura extrem nach oben geschoben hatte.
Manni riss die Schranktür auf. Gähnende Leere. Nur ein handgeschriebenes DIN A4-Blatt an der Rückwand des mittleren Regals. Da stand in der krakeligen Schrift des Abteilungsleiters Ratzevogel: »Der Verbandskasten befindet sich nunmehr im Treppenhaus!«
Manni schlug sich mit der flachen Hand an die Stirn. Klar, im Zwischenpodest zum zweiten Stock! Schon seit zwei Wochen mindestens. Schwungvoll hastete Manni die Treppe hinunter, verschätzte sich, liebesblind wie er war, und vertrat sich auf den letzten zwei Stufen den Fuß. Plumps, da lag er. Ein stechender Schmerz fuhr durch seinen linken Fußknöchel. So viel Schmerz konnte er nicht ertragen, er wollte schreien, doch schnell übermannte ihn die Ohnmacht.
Erst am nächsten Tag wurde er von der Putzkolonne gefunden. Da war er schon lange aus der Ohnmacht erwacht, war aber total bewegungsunfähig, hatte Hunger auf Gehacktesbrötchen mit Zwiebeln, Durst auf Bier und hatte zweimal in die Hose gemacht.

***

Wie konnte es geschehen, dass Manni so lange seinem Elend überlassen blieb? Nun, die drei Protagonisten waren die letzten Angestellten im Bürogebäude an diesem Abend. Laura und Bettina wunderten sich zwar, weil Manni nicht wieder auftauchte, aber nur sehr kurz. Als Laura wieder zu sich kam, verliebte sie sich sofort in Bettina und Bettina fand Laura sowieso schon immer toll. Da hatten sie andere Sorgen, eigentlich keine mehr und sind schnell, ich glaube zu Laura in die Wohnung, um Matherätsel zu lösen und so. Sie benutzen den Fahrstuhl, sonst wären sie ja über Manni gestolpert und dann hätten sich die Ereignisse des Abends zumindest später abgespielt. Wegen sich kümmern müssen um den Manni und warten, bis er im Krankenhaus ist.
Wird Manni wieder gesund? Kriegt er vielleicht Depressionen und fängt eine Drogenabhängigkeit an?
War es Sommer oder Winter oder spielt das überhaupt eine Rolle? Könnte sein. Im Sommer ist es abends länger hell, da hätten die beiden Turteltäubchen noch einen schönen Spaziergang in den Sonnenuntergang machen können, ohne gleich zu frieren.
Hat Laura eine Briefmarkensammlung?
Kann Bettinas Handy noch telefonieren? Das ist eine weniger wichtige Frage.
Adoptieren die zwei später mal Kinder oder kriegen sie sich wegen irgendwas nach zwei Wochen wieder in die Haare und diesmal passiert am Ende ein Mord? Das wäre ja ganz schlimm.
Warum eigentlich kamen die Gebäudereiniger erst am nächsten Tag? Hatten sie einen Platten oder einfach nur schlechte Terminplanung?
Mit was haben sich Laura und Bettina, meinetwegen auch Manni, den lieben langen Tag im Büro beschäftigt?
Das sind so Fragen. Gibt noch mehr.
Irgendwann muss aber Schluss sein.
Jetzt.

Äintschi

Da war es wieder. Dieses sanfte Streicheln auf ihrer welken Haut, knapp oberhalb des Knies, sich langsam und behutsam, kaum spürbar und doch so erregend, an der Innenseite des Oberschenkel aufwärtsbewegend, mit leicht kreisenden Bewegungen, jeder Finger eine eigene Bewegung, die rauhe Handfläche mit leichtem, fordernden Druck: Geil. Jetzt war sie ganz wach und Frau. Sehnsüchtig erwartete sie den Zugriff auf die Muschi. Doch Herberts Hand erschlaffte und fiel auf die Matratze.

Äintschi schlug die Augen auf. Im morgendlichen Sonnenlicht, durch das halb heruntergelassene Rollo in das Schlafzimmer fallend, sah sie ihren Gönnergatten als schlaffes und restlos erschöpftes Wesen neben sich. Er hatte es tatsächlich im Halbschlaf schon geschafft und lag wieder in tiefstem Schlummer. Sein Problem mit dem vorzeitigen Samenerguss wurde immer mehr zum Problem für sie.

»Verdammt und verreckt!«

Äintschi schlug die Bettdecke zurück. Die Uhr auf dem Nachttisch zeigte sieben Uhr dreißig. Zeit zum Aufstehen. Doch zunächst die Morgengymnastik. Diese bestand bei ihr aus fünf Minuten Zehenwackeln. Heute kam sie jedoch nur auf viereinhalb Minuten, dann konnte sie nicht mehr.

»Bin wohl schlecht im Training«, dachte sie. »Das kommt von zu wenig Sex!«

Diesen Vorwurf richtete sie laut an ihren schnarchenden Herbert. Der schnarchte zufrieden vor sich hin. Mit einem letzten abfälligen Blick auf ihn stand sie auf. Gähnend ging sie zum Wäscheschrank und nahm sich eine frische Unterhose. Eine mit »Loch 18«-Aufdruck vorn, wo die Muschi dahinter ist. Von den Dingern hatte sie noch einen ganzen Karton auf dem Dachboden. Restbestände vom Vorgängerverein des Golfclub Temperwiesen in Arglau. Dort waren Herbert und sie Mitglied. Kurz befühlte Äintschi das schwarz aufgedruckte Loch, genau mittig über der Spalte. Ja, das tat gut. Doch dafür war jetzt keine Zeit. Punkt acht Uhr würde die Limousine vor der Tür stehen, um sie ins Kanzleramt zu fahren. Nach einer schnellen Dusche kleidete sie sich an. Schnell verschlang sie eine Schale mit dem guten Bergsteigermüsli. Da klingelte es auch schon an der Haustür. Das war bestimmt Kevin, ihr Lieblingschauffeur, Lieblingsmasseur und Lieblingsbodyguard, ein ganz toller Typ. Das Hausmädchen Liane, die gerade vom Gassigehen mit den beiden Merkelterriern zurückgekommen war, öffnete die Tür.

»Guten Morgen Liane. Ist die Chefin schon fertig?«

Bevor Liane antworten konnte, kam Äintschi in Socken aus der Küche.

»Nur noch die Schuhe, Kevin. Ist was? Du siehst so gehetzt aus.«

»Na ja, der Helge Braun hat gesagt, ich soll ein wenig schneller fahren. Es wäre ganz gut, wenn du heute etwas früher ins Amt kommst.«

»Da bin ich aber gespannt, was der Helge damit meint.«

Äintschi schnappte sich ihre Handtasche vom Tischchen an der Garderobe. Liane bekam einen kleinen Klaps auf den kleinen Hintern.

»Du kümmerst dich nachher wieder ein wenig um Herbert, gell?«

Dann fuhren sie. Liane überließen sie ihrem elenden Schicksal.

Im Kanzleramt angekommen, informierte Äintschi sich über den geplanten Tagesablauf. Prüfend überflog sie den Outlook-Kalender. Das konnte doch nicht wahr sein! Was war denn hier wieder schiefgelaufen? Per Kurzwahl gab sie die Nummer ihres Staatsministers ins Smartphone ein.

»Helge! Was soll das? Warum steht im Speiseplan ‚Nudeln mit Tomatensauce? Langsam glaube ich, ihr macht das mit Absicht. Nach 2 Amtsperioden solltet ihr echt wissen, was mich zum Kotzen bringt. Außerdem habe ich für heute Mittag eine kleine Planänderung. Statt Mittagessen in der Kantine und anschließendem Spaziergang im Botanischen Garten mit der neuen Leiterin. Ich glaube, ich muss dringend wieder eine Massage bekommen. Ist der Müller-Wohlfahrt noch in Berlin? Der wäre mir gerade recht dafür. Wenn nicht, ich probiere auch gern was Neues aus!«

Während Ihr Minister antwortete, nippte sie an einem Glas Wasser.

»Nein!«

Prustend und hustend spie sie das Wasser wieder aus.

»Das will ich schriftlich. Komm sofort her!«

Mit hochrotem Kopf lief sie ins Badezimmer und überprüfte ihr Aussehen im Spiegel. Durch die heftige Hustenattacke hatte sich eine Schleife in ihrem blondgelockten Haar gelöst und musste neu geknotet werden. Ansonsten war sie sehr zufrieden mir ihrem Äußeren. Sie zog die Lippen zurück, fletschte die Zähne.

»Rrrrh, ich bin eine wilde Tigerin!«

So richtig überzeugend fand sie ihr Spiegelbild nicht. Aber es half. Seit sie dieses Mantra mindestens 5-mal täglich ausübte, waren ihre direkten Untergebenen viel demütiger. Nur das Volk wollte von ihrer neuen Stärke nichts wissen und probte den Aufstand. Nur schlappe 28 % bei der letzten Landtagswahl in Sachsen. Die AfD fast genausoviel, 23 %. Der Rest hatte sie noch nie interessiert.

Sie verspürte eine gelinden Darmdruck und setzte sich, in staatslenkende Gedanken versunken, auf die Kloschüssel mit den lustigen Delfinen auf der Klobrille, die sich in blauem Lagunenwasser dreidimensional tummelten. Die waren ihr im Moment egal. Sie konnte sie sowieso nicht sehen, weil ihr üppiger Hintern den Ozean der Delfine in den Nachtmodus versetzt hatte. Ihr Grübeln über die schwere Staatskunst wechselte seltsamerweise zum Nachdenken über den Ozean.

»Wie groß, mächtig und ganz schön nass doch der Atlantische Ozean ist!«

Sie träumte sich in ein Flugzeug, unter sich das weite Meer, sie verlor sich fast in ihrem Traum, da fiel ihr das Ziel des Fluges ein: Washington, D.C.

»Ach du verbibschte Molekularstruktur!«

Das war ihr Lieblingsfluch aus alten Studentenzeiten, der noch nicht den Weg in die Boulevardpresse gefunden hatte. Da war sie stolz drauf. Stolz war sie auch auf ihre Hämorrhoiden, von denen nur sie und der Müller-Wohlfahrt wussten. Und Herbert, ihr Lover. Nein, sie war nicht stolz auf die Hämorrhoiden, sondern dass ihre Existenz ihr Geheimnis waren. Wie so manches andere, doch lassen wir uns überraschen.

Jetzt sprang sie auf und tupfte sich die feuchte Muschi mit hochwertigem Klopapier ab, zog den Loch-18-Slip wieder über das Hüftfett und stopfte ihre Hüftpolster in die Hose. Schon war sie wieder in ihrem Büro, wo der umtriebige Helge Braun, ihr 1. Staatssekretär, schon ungeduldig wartete. Er räkelte sich in einer hellen Ledergarnitur, schon am frühen Morgen mit einer Flasche Bier in der Hand. Als Äintschi in den Raum kam, sprang er hastig auf und knallte die Flasche auf den Tisch.

»Aintschi! Da bist du ja endlich! Weißt du schon, was passiert ist?«

»Nöö. Aber du wirst es mir bestimmt gleich sagen. Darf ich raten? Ist der Trump schon einem Herzanfall oder einem Attentat erlegen? Oder willst du mir schon mal deinen Nachfolger vorstellen, der hoffentlich nicht so ein Saufloch ist?«

»Ach komm, Äintschie. Du weißt, das ist Medizin für mich. Ist auch erst die Zweite mit Alk. Ich habe einen Kaffee mit Schuss bestellt, willst du auch einen?«

»Lass mal. Sag lieber was los ist. Ich bin doch keine Ratetante.«

»Liegst aber oft richtig mit deinen Vermutungen. Also, der Trump …«

»Ich wusste es. Ich wusste es!«

Äintschi ließ sich in das weiche Leder der Couchgarnitur fallen. Es gab ein verdächtiges Geräusch.

»Puh, hier riecht es komisch!«

Helge wedelte mit der Hand vor seinem Gesicht.

»Was hast du gegessen? Na, besser hier, als im Bundestag!«

Er ging hinter die Hausbar und drückte ein paar Knöpfe an der Holzvertäfelung. Die Klimaanlage schaltete auf maximale Luftumwälzung.

»Verdammter Grünkohl!« schimpfte Äintschi. »Hoffentlich war es das jetzt.«

»Äintschi, wir leben in Zeiten, in denen jedes Lebenszeichen positiv ist.«

Helge wankte wieder zurück.

«Ah, Philosoph! Helges Sprüche Alk. 1, Vers 2, ja?«

»Nein, im Ernst. Bleib sitzen. Der Trump ruft in 10 Minuten an und will dir was sagen. Das ist das eine. Das andere ist: Wir wissen was. Der BND hat nach deiner Bespitzelung durch die NSA kräftig investiert. In Defensiv- als auch Offensivsysteme. Wenn du willst, kannst du einen Bericht in allen, ich sagte: allen! Einzelheiten bekommen, was der Trump in den letzten zwei Wochen gemacht und nicht gemacht hat.«

»Was will er, Helge?«

Äintschi war der Redefluss des Sekretärs zuwider.

»Spuck es endlich aus!«

»Erstens: 300 Milliarden Euro dafür, dass er uns in Ruhe lässt. Zweitens: Aufnahme aller Amerikaner, die er für unpatriotisch hält, das sind zu Anfang erstmal alle Besitzer eines deutschen Autos, er will sich noch andere Kriterien überlegen. Die Autos will er aber behalten und amerikanische daraus machen. Drittens: du sollst nächste Woche zu ihm kommen. Er meint Staatsbesuch, doch wir wissen durch den BND, dass er nicht vorhat, dich wieder abfliegen zu lassen. Er braucht eine Geisel, wahrscheinlich noch andere, wir sind noch daran, es herauszufinden. Viertens: Die mexikanische Mauer: Wir sollen den Mexikanern beim Bau helfen. Fünftens: sofortiges Einreiseverbot für alle Nichtamerikaner. Sechstens: Rockpflicht für Frauen, Kettenpflicht für Schwarze und anderes Gesocks, ach, die Liste ist noch lang. Für uns ist aber erstmal wichtig, wie wir mit a: der Geldforderung, b: den missliebigen Unpatrioten, c: deiner drohenden Geiselhaft verfahren.«

Helge nahm einen kräftigen Schluck aus der Pulle.

»Gib mir auch ein Bier. Und einen Schnaps.«

Äintschi klang schwach und verzweifelt.

»Nein, Äintschi! Du musst jetzt nüchtern bleiben! Und stark sein!«

«Du Arsch! Meinst du, es fällt mir leicht, den ganzen Tag von Vollidioten umgeben zu sein und wenn ich nach Hause komme ist da auch noch einer! Stark sein, stark sein! Ich kann bald nicht mehr, ich bin mit den Nerven völlig runter. Wenn jetzt noch der Seehofer anrufen tät, ich würde ihm empfehlen Selbstmord zu begehen, bevor ich die GSG9 auf ihn hetze. Ihr kennt mich alle überhaupt nicht. So und nun lass mich in Ruhe! Ich werde mit dem Trump schon klarkommen!«

Achselzuckend wandte sich Helge ab und verließ den Raum. Äintschi erhob sich müde und ging hinter die Hausbar. Aus einer Johnny Walker nahm sie einen kräftigen Schluck direkt aus der Pulle.

»Wo ist denn der Puschkin-Wodka?«

Auch aus dieser Flasche noch einen Zug. Für ein altes Ossimädel war das wie ein Joint für einen schlappen westlichen Öko-Hippi. Noch einen. Sie setzte sich ans Fenster, legte das Amtstelefon auf den Beistelltisch und schaute hinunter auf ihr heiß geliebtes Berlin.

Das Telefon klingelte. Äintschi drückte den Rücken gerade und nahm ab.

»Ja?«

»Frau Merkel, ein Gespräch aus USA. Herr Trump.«

»Stellen Sie durch!«

Gleich darauf hörte sie Trump durch den Lautsprecher des Telefons:

»… fuckin‘ mouth, babe, fuck harder babe, I’m comming soon!«

Äintschi hörte interessiert zu. Lässt der sich einen blasen! Während der Arbeit! Dass der sich das traute! Sie holte tief Luft und brüllte in das Telefon:

»Mr. President, do you hear me? Here ist Germany. Here ist Bundeskanzlerin Merkel! Help! Help! Help Me! The Russians are here!«

Den Telefonhörer knallte sie auf den Tisch und machte Maschinengewehrsalvengeräusche: »Rattatatatata!«

Sie stöhnte ein nach Abkratzen klingendes: »Uhhhhhh!!« und drückte schnell die Unterbrechertaste.

»So, du Obermacker. Jetzt kannst du dir aber mal so richtig Sorgen um mich machen!«

Äintschi war sehr stolz auf ihre Show. Schlagartig besserte sich ihre Laune.

»Hach, das macht ja richtig Spaß, so wunderbar spontan zu sein!«

Fröhlich öffnete sie die Flurtür und stellte sich neben ihren Lieblingsbodyguard.

»Kevin, holen Sie doch bitte mal den Herrn Braun hierher. Sie finden ihn bestimmt in der Kantine beim saufen.«

Kevin blieb jedoch stehen. Für sowas hatte er seine Leute. Mit drei kurzen Handbewegungen signalisierte er Frank am anderen Ende des Flures. Der hob den Daumen und verschwand.

»Ist in Arbeit, Frau Bundeskanzlerin. Ich kann hier nicht weg, das wissen Sie.«

»Habe ich gerade mal nicht dran gedacht!« sagte Äintschi spitzbübisch und wiegte sich in den Hüften. Schmunzelnd und mit lustig blitzenden Augen schaute sie hoch in das harte, kantige Gesicht ihres hochdotierten Beschützers.

»Kommen Sie doch rein, Kevin. Ich denke, es ist noch Kaffee da. In meinem Büro können sie bestimmt noch besser auf mich aufpassen.«

Die Kanzlerin fasste ihn am Arm und zog ihn in den Raum. Leicht widerstrebend ließ er sich mitziehen. Der Job war manchmal nicht leicht.

Tatjana und ich

»Kommen Sie mal da raus!«

Jemand klopft an die beschlagene Seitentür von Tatjanas Wagen. Es ist eine tiefe, kräftige Männerstimme.

»Ich habe Ihnen doch gesagt, die machen Unzucht da drin!«

Eine andere Stimme, ältlich und weiblich. Bestimmt die Omi, die bei der Polizei angerufen hat. Wir schauen uns an und grinsen. Schmunzelnd legt sie mir den Zeigefinger auf die Lippen und flüstert:

»Zieh dich an, aber leise!«

Draußen wird die Stimme der entrüsteten alten Frau lauter. Ich ziehe die Hose hoch, streife mein Hawaihemd über. Neben mir, auf der Heckfläche des Volvo, findet Tatjana ihren Rock, schlüpft hinein. Sie schnappt sich ihr T-Shirt von der Kopfstütze der Fahrerseite und zieht es an. Die Ahnung ihres phänomenalen Busens ist eindeutig keine. Zu offensichtlich drängen ihre prallen Titten nach Freiheit. Ich staune über die Festigkeit des Stoffes. So wie die Brustwarzen abstehen, könnten sie jeden Moment die Fasern zerschneiden. Jetzt bewegt sich Tatjana langsam und vorsichtig auf den Beifahrersitz, bringt ihn in Liegestellung und öffnet das Fenster zu einem kleinen Spalt. Über ihen Oberkörper legt sie ihren dicken Parka. Das löst ein wenig meine Anspannung.

»Was ist denn los?« ruft sie durch den Fensterspalt nach draußen.

Draußen, das ist ein Waldparkplatz in der Nähe von Murberg. Hier haben wir vor einer guten Stunde in Tatjanas Kombi notdürftig angehalten. Es war die erstbeste Möglichkeit, unsere spontan entstandene Ficklust auszuleben.

Ich sehe einen dicklichen Polizisten an der Fahrertür. Die hinteren Seitenfenster und die Heckscheibe sind schwarz getönt, Tatjana hat beim Diebstahl des Kombis auf dieses extrem wichtige Detail geachtet. Hinter dem Bullen bewegt sich schwerfällig ein altes Muttchen. Neben ihr kläfft ein Köter, keine Ahnung, was für eine Rasse das sein soll.

»Kommen Sie raus da, alle beide!« Der Bulle denkt, er hätte eine voll autoritäre Stimme. Ich empfinde sie einfach nur als hilflos.

»Wieso alle beide? Warum überhaupt?«

Tatjana, ich liebe dich! Lass dich nur nicht unterkriegen!

»Sie sollen hier in dem Auto sexuelle Tätigkeiten ausgeübt haben!«

»Was ist los?« Tatjana klingt mehr als entrüstet ob dieser Beschuldigung. Trotz aller Erotik in der Stimme bringt sie es fertig, allein durch die Tonlage die Frage als Schwachsinn zu disqualifizieren. Sie kann sich so supergut verstellen.

»Ich penne hier, das darf ich ja wohl!«

»Aber Sie haben es doch auch gehört und gesehen!“ ruft das Mütterchen dem Polizisten zu.

»Ganz lautes Stöhnen, auch von einem Kerl! Und wie das Auto geschaukelt hat!«

»Na und?« Tatjana beginnt keck zu werden.

»Ich habe manchmal ganz furchtbar schöne erotische Träume, das kennen Sie doch sicher auch?«

Sie schaut dem Mütterchen tief in die Augen. Der Polizist bekommt einen roten Kopf. Ich sehe ihm an, dass er den Schwanz sowieso schon eingezogen hat.

»Selbstverständlich, ich meine: Ja, natürlich können Sie in Ihrem Auto schlafen. Aber können Sie den Wagen trotzdem mal öffnen?«

»Nöö, kann ich nicht. Ich handle nämlich mit Rauschgift. Sie wollen sich garantiert an einem Freitagnachmittag nicht mit einer Wagenladung Koks befassen, oder? Das nächste Wochenende ist dann sicher eine Woche später.«

»Was hat Sie gesagt?«

Glücklicherweise scheint die Alte etwas schwerhörig zu sein. Oder sie hat von den aktuellen Angeboten auf dem Drogenmarkt keinen Schimmer. Bestimmt sind Bier, Wodka und Zigarrenrauch so ziemlich das Schärfste, was sie in ihrem verschrumpelten Vorkriegsleben als »Drogen« kennengelernt hat.

»Alles gut.« Der Polizist atmet tief durch.

»Alles in Ordnung, gute Frau. Ich habe keinen Grund, mich noch weiter mit dieser Angelegenheit zu beschäftigen. Im Auto zu schlafen ist erlaubt, niemand ist geschädigt. Wir fahren jetzt, Heini!«

Den letzten Satz ruft er seinem im Einsatzwagen wartenden Kollegen zu.

»Aber, aber, das können Sie doch nicht machen! Sie müssen die Frau verhaften! Und den Kerl dadrin auch! Das verlangt die deutsche Sittlichkeit!«

»Wissen Sie, gute Frau«, blinzelnd zu Tatjana redet der Bulle jetzt Klartext:

»Du bist eine verklemmte alte Nuss. Tschuss!«

»Sie, Sie, Sie …« Ihr fehlen die Worte.

Dafür kläfft ihr Köter jetzt umso kräftiger. Ich höre sich durchdrehende Reifen. Schotter spritzt. Die Bullen sind weg. Die Alte steht noch unschlüssig herum. Jetzt steigt Tatjana aus, wirft den Parka ins Auto, reckt sich genüsslich und hebt den Rock hoch. Sie hockt sich neben den Vorderreifen und sagt:

»Jetzt muss ich erst mal dringend strullern. Kannst du bitte mal zum Mond gucken, gute Frau?«

Schon spritzt der Strahl. Die Alte fällt ohnmächtig um. Wir zerren sie ins Gebüsch, schlagen den Köter tot und werfen ihn neben sie. Dann fahren wir lachend, vollgekokst und voll sexbesessen in Richtung Süden.

Ludwig ist krank

Ludwig ist krank

Ludwig kam von der Schule nach Hause. Als er die Haustür aufschließen wollte, krümmte er sich plötzlich vor Schmerzen.

Schon in der Schule hatte er ein komisches Gefühl im Bauch. Beim Einsteigen in den Schulbus bekam er das erste Mal einen schmerzhaften Krampf und sein Schulbrot bahnte sich den Weg nach oben. Der Busfahrer machte sich noch lustig über ihn, weil er so langsam die Stufen in den Fahrgastraum erklomm und dabei den ganzen Betrieb aufhielt.

»Na, du Lahmarsch! Beweg dich mal ein bisschen! Muskelkater vom Schulsport, was?«

Ludwig hasste ihn. In seinen Gedanken war dieser unsensible Busfahrer bereits tot. Seine Freunde waren etwas einfühlsamer. Simon, der im Bus neben ihm saß, fragte: »Was hast du denn? Ist dir schlecht?«

Ludwig konnte nur nicken und sich dabei den Bauch halten. Simon schaute mitfühlend. »Vielleicht hast du ja eine Blinddarmentzündung. Meine kleine Schwester hatte letztes Jahr auch eine. Fast wäre sie daran gestorben.«

»So ein Quatsch!« Frank, der in der Reihe vor ihnen saß, hatte alles gehört.

»Lass dich nur nicht verrückt machen! Laura hatte keine Blinddarmentzündung, sondern sich nur an den leckeren Pfannkuchen ihrer Oma total überfressen. Simons Eltern waren allerdings mit ihr im Krankenhaus, weil sie dachten, sie müsse sterben. Abends war sie wieder zu Hause. Simon ist ein Lügenbold! Aber sag‹ mal, ist es wirklich so schlimm?«

Ludwig nickte bloß.

Den kurzen Weg von der Bushaltestelle bis zur Wohnung schaffte er mit kurzen Schritten und zusammengebissenen Zähnen. Glücklicherweise begegnete er auf dem Nachhauseweg niemandem, sonst hätte er »Guten Tag« sagen müssen und er war sich sicher, dass ein offener Mund noch etwas anderes herausgebracht hätte.

Den Haustürschlüssel im Schloss zu drehen, dazu fehlte ihm die Kraft. Mit großer Anstrengung hob er den Arm und drückte die Klingel.

Seine Mutter öffnete nach einer kleinen Ewigkeit.

»Ludwig, du hast doch einen Schlüssel! Warum klingelst du denn? Du weißt doch ganz genau, dass ich zu dieser Zeit immer meinen Schönheitsschlaf mache!«

Fast ging es Ludwig schon besser, als er das hörte. Der Schönheitsschlaf seiner Mutter war nämlich sehr lustig anzuschauen, wenn man sie dabei erwischte. Allein die Gurkenscheiben auf ihren Augen! Manchmal fragte er sich schon, ob sie wirklich seine Mutter war oder ein übersäuerter Gurkensalat.

»Mir ist schlecht und ich muss gleich kotzen.«

»Komm erst mal rein. Die Haustür muss ja nicht stundenlang offen stehen.«

Es war ihr peinlich, mittags im Schlafanzug und mit pinkfarbener Schmiere im Gesicht von den Nachbarn gesehen zu werden. Völlig fertig stand Ludwig in der Küche und stütze sich auf eine Stuhllehne. Seine Mutter lag schon wieder auf dem Sofa und drapierte sich die Gurkenscheiben auf die Augen.

»Leg dich ins Bett, esse ein paar Scheiben Zwieback und trinke ein Glas Wasser!«

Ludwig wankte an die Spüle und trank ein Glas Wasser. Für zwei Schlucke brauchte er eine kleine Ewigkeit, so scheußlich weh tat es jedesmal, wenn das Wasser in seinen Bauch rann. Den Zwieback ließ er im Schrank.

Mit letzter Anstrengung schaffte er es, die Treppe hoch in sein Zimmer zu gehen und ließ sich aufs Bett fallen. Dem Ratschlag seiner Mutter folgend, schlief er sofort ein.

Sein Schlaf dauerte nicht lange. Nach einer halben Stunde wachte er bereits auf und verspürte beim Aufrichten einen stechenden Schmerz in der Stirn. Sein Bauchweh war auch nicht besser geworden. Sicherheitshalber ging Ludwig ins Badezimmer und hielt den Kopf über die Kloschüssel.

Außer einem leichten Würgen passierte zum Glück nichts.

Ludwig ging nach unten zu seiner Mutter. Die hatte mittlerweile ebenfalls ihr Nickerchen beendet, die Gurkenscheiben und die Gesichtspaste entfernt und sah – zumindest bis zum nächsten Tag – wieder aus wie eine sechszehnjährige Teenagerin.

»Mama, ich habe jetzt auch noch Kopfschmerzen!«

»Ach du liebe Güte! Du hast auch immer etwas anderes! Komm her, mein Lieber. Hier hast du eine Schmerztablette!«

Doch was Müttern hilft, ist für Kinder nicht gleich gut. Ludwig ging es nach der Giftinjektion nicht besser. Seufzend ergab seine Mutter sich in ihr Schicksal und fuhr mit Ludwig zu Dr. Engelbrecht. Der hatte gleich eine Diagnose parat, ohne Ludwig näher zu untersuchen.

»Ihr Sohn hat wahrscheinlich eine Grippe. Er kann sich zuhause mal vor das Fernsehgerät setzen. Das lenkt ab!«

Ludwig starrte dem Doktor ungläubig an. Das konnte doch nicht wahr sein? Doch Dr. Engelbrecht reagierte überhaupt nicht. Er saß vornübergebeugt an seinem Schreibtisch und rechnete seinen Gewinn aus.

Zu Hause angekommen, wurde sofort das Fernsehgerät eingeschaltet. Im Ersten Programm kam eine Sendung über Hausgeburten. Das Blut lief in Strömen. Ludwig rief: »Mama, ich muß kotzen!«

Seine Mutter stellte gleich einen Eimer neben das Sofa. Ludwig würgte fleißig, doch viel kam nicht heraus.

»Soll ich dir ein anderes Programm einschalten?«

Ludwig nickte mühsam. Er fühlte den Tod nahen. DieMutter drückte auf der Fernbedienung herum und schaltete durch die Programme. Auf dem Kinderkanal kam gerade »Lassie«.

»Willst du Lassie sehen?«

»Ja, lass mal an!«

Mutter verschwand wieder in der Küche. Ludwig schnappte die Fernbedienung und schaltete weiter. In einem Dritten Programm lief »Parlez-vouz francais?« Ludwig verstand überhaupt nichts. Französisch würde er erst im siebten Schuljahr lernen. Aber er bekam plötzlich eine gute Idee. So schnell wie er konnte, also im absoluten Schneckentempo, ging er die Treppe hinauf zu seinem Zimmer und öffnete seine Schultasche. Wo war bloß das Englischheft? Es war nirgends zu finden. Da fiel ihm ein, dass er es im Klassenzimmer auf seinem Tisch liegengelassen hatte. Das sollte ihn morgen früh in der Schule gleich daran erinnern, dass er die Hausaufgaben für die dritte Stunde noch in der großen Pause von Stefan abschreiben wollte. Was jetzt? Zum Glück hatte er noch sein Englischwörterbuch im Regal. Er nahm das Buch und legte sich damit ins Bett. Er fing bei »A« an.

Als er nach zwei Stunden meinte, genug gelernt zu haben, holte er seine Mathematikhausaufgaben. Damit war er schon nach zehn Minuten fertig. Anschließend setzte er sich an seinen Schreibtisch und malte mit Wasserfarben ein schönes Bild von seiner Mutter. Leider misslang es ihm. Zuerst wollte er es in den Papierkorb werfen, doch dann bekam er einen Einfall. Er hängte es kopfstehend und umgekehrt an seine Zimmertür.

Ludwig mochte es, seiner Umwelt Rätsel aufzugeben. Irgendwann würde seine Mutter merken, dass ein leeres, weißes Blatt an der Tür hing und die Angelegenheit näher untersuchen.

Ludwig wurde müde und legte sich ins Bett. Als er am nächsten Morgen aufwachte, waren alle Schmerzen verschwunden.

Das Original

Als Ludwig nach Hause kommt, hat er Bauchschmerzen. Seine Mutter sagt: »Leg dich ins Bett, esse ein paar Scheiben Zwieback und trinke ein Glas Wasser.«

Ludwig tut was seine Mutter sagt. Aber nachdem er 30 Minuten geschlafen hat, merkt er, dass sein Kopf wehtut!

Er geht zu seiner Mutter, die ihm sofort eine Kopfschmerztablette gibt. Doch auch nach diesem Versuch geht es Ludwig nicht besser. Seine Mutter hält es nicht mehr aus und fährt mit ihrem Sohn zum Arzt. Der meint: »Ihr Sohn hat wahrscheinlich eine Grippe. Er kann sich zu Hause mal vor das Fernsehgerät setzen. Das lenkt ab!« Ludwig macht, was der Arzt gesagt hat. Danach geht es ihm ein wenig besser.

Aber am nächsten Morgen hat er wieder Bauchschmerzen. Seine Mutter sagt: »Du gehst auf keinen Fall in die Schule! Hörst du! Eine Grippe ist ansteckend.« Ludwig nickt und schaltet den Fernseher an. Aber das wird ihm langsam zu langweilig.

Er nimmt sein Mathebuch aus dem Schulranzen und rechnet Seite für Seite. Als er ein Drittel des Mathebuches durch hat, lernt er seine Englischvokabeln. Es macht ihm richtig Spaß so zu lernen. Als er mit den Vokabeln fertig ist malt er ein schönes Bild. Dann spielt er ein paar Lieder auf seiner Blockflöte, lernt die lateinischen Begriffe für Kirchen und für die Bioarbeit. Er ist so in das Lernen vertieft, dass er gar nicht merkt, wie die Bauch- und Kopfschmerzen weggehen. Erst als er das gesamte Deutschbuch durchgelesen hat, merkt er dass seine Schmerzen wie weggeblasen sind.

Er läuft zu seiner Mutter und ruft: »Mama, ich kann morgen wieder in die Schule! Die Bauchschmerzen sind weg!« Ludwigs Mutter ist froh dass es ihrem Sohn wieder gutgeht. Und am nächsten Tag geht Ludwig wieder in die Schule!

Rüdiger

»Wann kommt er denn endlich?«

Rüdiger hieb mit seiner flachen Hand an die Beifahrertür des Firmenwagens. Mittlerweile begann die Kälte des frostigen Wintermorgens an seinen Zehen zu nagen. Sein Chef war jetzt schon seit zehn Minuten überfällig. Mit kalten Fingern angelte er sich eine filterlose Zigarette aus der zerknitterten Packung und drehte sich in den kalten Wind, um sie mit seinem Sturmfeuerzeug in den hohlen Händen zu entzünden. Tief inhalierend ging er zurück zum Werkzeugschuppen. Der Schuppen war zur Hofseite hin völlig offen. Nur die rechte Hälfte mit Werkzeugen und Maschinen auf einer Pflasterfläche diente dem Betrieb. Der restliche Platz war vollgerammelt mit Heu- und Strohballen. Der Minibagger stand auf einem Anhänger. Die Einstiegstür fehlte.

Rüdiger stieg über den Radkasten des Anhängers und ließ sich in das Führerhaus des Baggers fallen.

»Brumm, brumm, brumm!«

Vor lauter Langeweile spielte er an den Armaturen und stellte sich vor, wie er gerade das Grab von Hansi verfüllte.

»Der Arsch! Erstmal aus Versehen mit dem Baggerlöffel den Sarg ein bißchen einquetschen, damit die Würmer schneller an dich drankommen! Dann ein Löffel Dreck, noch ein Löffel Dreck … oh, entschuldige bitte, dass ich deinen Sarg schon wieder gelöchert habe! Brumm, brumm!«

Er hörte ein weiteres Brummen, diesmal von der Straße weiter unten und sein Gefühl sagte ihm: Der Chef kommt. Ein blauer Geländewagen fuhr zügig den Feldweg zum Schuppen hoch. Endlich! Wenn er jetzt nicht gekommen wäre, hätte Rüdiger sich in seinen rostigen Opel Corsa gesetzt und wäre zu seiner Freundin Britta gesaust.

Sein Chef kam mit Sicherheit von einer seiner vielen Freundinnen. Der geile Bock! Rüdiger konnte nicht verstehen, was die Weiber an ihm fanden.

»Morgen, Rüdiger!«

Hansi blieb in seinem Protzschlitten sitzen und hatte nur die Seitenscheibe elektrisch geöffnet.

»Hast du schon lange gewartet? Tut mir leid, dass ich so spät bin. Hier ist der Schlüssel vom LKW. Wenn du heute fertig bist, schließ ab und nimm ihn mit. Keine Ahnung, ob ich morgen mithelfen kann. Jetzt muss ich auch gleich wieder los, Baustelle in Dünsperg angucken. Kann zehn Uhr werden, bis ich zu dir stoße, haha! Ansonsten ist ja alles klar: Bagger mitnehmen und buddeln was das Zeug hält. Die Beerdigung ist um zwei, bis dahin muss alles pikobello sein. Also dann, tschüss!«

Den Motor des Geländewagens hatte der Chef erst gar nicht abgestellt. Der Rückwärtsgang wurde eingelegt und weg war er.

Rüdiger ging zum LKW und steckte den Schlüssel ins Schloss. Verdammt, schon wieder verklemmt. Die Karre hatte schon 23 Jahre auf dem Buckel und in dieser Zeit bestimmt schon eine Gesamttonnage von der Masse des Mondes transportiert. Endlich rastete der Schlüssel ein. Wütend riss Rüdiger die Fahrertür auf. Sie fiel ihm entgegen und er konnte sie gerade noch halten, als sie sich aus der oberen Halterung löste und abknickte.

»Mist, Scheiße, Gottverdammte Hurendoggenscheiße!«

Die Verzweiflung allen aufgestauten Elends des heutigen Morgens entlud sich in einer Entscheidung mit orgiastischem Höhepunkt.

»Weg den Dreck!«

Schwungvoll knallte die Tür runter und knirschte entsetzlich in der unteren Angel. Drei, vier kräftige Tritte mit stabilen Sicherheitsstiefeln knallten gegen das Türfutter. Noch hielt die Tür. Rüdiger schaute sich den Schaden genauer an. Die obere Türangel war total abgefault und hatte sich mit einem riesigen Loch in der Füllung verabschiedet. Die kläglichen Reste hingen an der Tür und bröselten in rostigen Krümeln ab.

»Total im Arsch, die Karre!«

Kurz entschlossen packte Rüdiger die Tür und hob sie ein paar Mal auf und ab, in der Hoffnung, sie aus der unteren Halterung reißen zu können. Der Erfolg kündigte sich in schrillem metallischen Kreischen des gequälten Stahls an. Nocheinmal! Fester! Nochmal! Nichts bewegte sich. Enttäuscht – und dennoch hochzufrieden über den Widerstand deutscher Qualitätsarbeit gegen den Rost der Zeit – hielt Rüdiger in dieser sinnlosen Arbeit inne.

»Hier brauchen wir stärkeres Kaliber!«

Entschlossen holte er die Pflasterbrechstange vom Anhänger und setzte sie an. Zweimal kräftig gehebelt, dann war sie ab. Na also! Die Tür zerrte er gleich auf den Metallschrotthaufen.

Ein Blick auf die Armbanduhr zeigte ihm, er müsse sich jetzt beeilen. Sobald er den Anhänger mit dem Bagger darauf angehängt hatte, bugsierte er, eingenebelt in schwarze Dieselabgase, das Gespann zur Hofeinfahrt hinaus auf die Straße. An diesem Frühlingsmorgen schien die Sonne zwar schon seit zwei Stunden, hatte es aber noch nicht geschafft, die kalte Nachtluft entscheidend zu erwärmen. Rüdiger hielt seine Arbeitsjacke bis zum Kinn verschlossen und lenkte mit Arbeitshandschuhen. Zeit zum Warmlaufen des LKW-Motors hatte er nicht gehabt und selbst mit funktionierender Heizung hätte das nichts gebracht, weil die Fahrertür fehlte.

»Ich muß doch wirklich bescheuert sein, so loszufahren!«

Sicherheitsgurte waren im Führerhaus nicht vorhanden. Auch deshalb hatte Rüdiger ein schlechtes Gefühl beim fahren. Egal, noch drei Kilometer bis zum Friedhof, da wird schon nichts passieren!

Vorsichtig bog er mit dem Gespann nach rechts in die Bahnhofstraße ab. Hier hatte die Straße ein leichtes Gefälle und Rüdiger rollte im kleinen Gang hinab. An der Sparkasse musste er anhalten, weil vor ihm ein altes Mütterchen die Straße überquerte. Aus dem Tabakladen an der Ecke öffnete sich gerade die Tür und Rüdigers Freund Erwin kam heraus. Obwohl dessen Augen von der Zecherei der letzten Nacht noch verklebt waren, erkannte er Rüdiger in der Klapperkiste und begann sofort ein entsetzliches Gebrüll.

»Rüdiger, du alte Sau! Warte mal! Haste mal 5 Euro für mich? Die Fotze hier will mir nichts mehr geben! Dabei hab’ ich gerade gestern noch ‘nen Zwanziger rübergeschoben, den Hansi mir für’s Leichenfleddern gegeben hat!«

Erwin war so eine Art Gelegenheitsarbeiter bei Hansi. Seit zwei Jahren arbeitet er tage- oder wochenweise im Betrieb, je nachdem, welchen Bedarf Hansi an ihm hatte. Zuletzt hatte er vor ungefähr 3 Monaten auf einer Baustelle in Dünsperg gearbeitet oder so. Eines Morgens hatte Hansi ihn schon um 10 vollgesoffen angetroffen und sofort rausgeschmissen. Bei Andriana, der Inhaberin des Tabakladens, hatte er dauernd Schulden. Selten hatte die er die Gelegenheit, sein Konto bei ihr auszugleichen. Sein einziger Nebenverdienst zu Hartz IV war die Mithilfe beim Gräberschaufeln in der Hansis Tiefbaufirma.

Ende kommt noch.