Samstag,
morgens
Ori
war tot.
Der
Kleine lag reglos hinter der Tür des Hasenstalls.
Die
anderen sprangen in Vorfreude auf ihre morgendliche Fütterung hin
und her. Die dicke Wilma hoppelte auf Oris Flanke. Dem toten Hasen
entwich ein letzter Pups.
Erwin
hielt die Luft an. Erst nach vorsichtigem Schnuppern kam er näher,
um durch den engen Draht der Tür einen besseren Blick zu bekommen.
Komisch. Äußerlich konnte Erwin nichts erkennen.
Dass
Hasen sich gegenseitig totbeißen können, darüber stand etwas in
einer Ausgabe der Zeitschrift »Mein Haustier«, die er vor ein paar
Wochen im Wartezimmer seiner Zahnärztin unter einem Stapel
Modejournale herauszog. Den Artikel fand er dermaßen spannend, die
Zahnarzthelferin musste Erwin dreimal aufrufen, so sehr war er in die
Lektüre vertieft. Vor allem bei Nahrungsknappheit und extremer
Unterernährung sollte es vorkommen: Hasenkannibalismus.
Die
Vorstellung, seine lieben Hasen könnten Ori getötet haben, war
unvorstellbar! Alle Tiere sahen wunderbar rund aus wegen der üppigen
Speisekarte! Erwin öffnete die Tür des Stalls, nahm das tote Tier
vorsichtig hoch und untersuchte es gründlich. Keine erkennbaren
äußere Verletzungen. Sanft drückte er Ori an die Brust. Weich und
seidig wie ein Plüschtier. Der schlaffe Körper gab etwas Wärme ab.
Über
das Fell streichelnd sagte er leise:
»Du
Armer. Was ist denn mit dir passiert?«
Gestern,
bei der Versorgung der Hasen kurz vor Sonnenuntergang, hatte der süße
Ori zwei Extrakarotten bekommen. Die erste fraß er Erwin gleich aus
der Hand. Mit der zweiten verzog sich der Kleine in eine Ecke, um sie
in Ruhe zu verzehren. Kerngesund war das Häschen. Kein Wunder bei
den vielen Vitaminen.
Der
plötzliche Tod war Erwin ein Rätsel. »Wenn Kevin und Miriam davon
erfahren, wird es Tränen geben.«
Mit
der rechten Hand hielt Erwin das Tier vor den Bauch gedrückt, mit
der Linken zog er ein Büschel Stroh unter dem Hasenstall hervor.
Sorgfältig breitete er es in der nebenstehenden Schubkarre aus. Den
toten Ori legte er auf die weiche Unterlage und betrachtete sein
Werk.
»Ein
bisschen sieht er aus wie Jesus in seiner Krippe. Fragt sich nur, wer
ich bin – Ochs oder Esel?«
Der
große, hart und selbstsicher erscheinende Mann konnte auch
sentimental sein. Versonnen streichelte er mehrmals über Oris
weiches Fell und kraulte den Kopf ein wenig zwischen den schlaff
herunterhängenden Löffeln. Dies hatte das Tier besonders gern
gemocht. Kevin, der sechsjährige Sohn, war aber der beste
Zwischen-den-Ohren-Streichler. Kevins Streicheltalent entlockte Ori
Töne, ähnlich dem Schnurren einer Katze. Die schwarzen Äuglein
waren bei der Liebkosung weit geöffnet und schimmerten in feuchtem
Glanz. Wenn Miriam, seine große Schwester, das Gleiche tun wollte,
war er immer zappelig und in Fluchtbereitschaft, weil die Neunjährige
sehr rabiat zugriff. Erwin traten Tränen in die Augen, als er daran
dachte, wie die Kinder den plötzlichen Tod von Ori aufnehmen würden.
Mit
Blick auf die Armbanduhr stellte er fest, dass bis zum Aufstehen der
Kinder Zeit blieb. Die Ziffern zeigten erst halb sechs an. Recht früh
für einem Samstag mitten im Mai. Gestern Abend hatten die Beiden mit
ihren Freunden lange auf der Straße gespielt. Völlig erschöpft
fielen sie in die Betten.
Erwin
gab den anderen Tieren ihr Futter, füllte die Wasserflasche und
befühlte durch die Puma-Jogginghose gedankenlos den lästigen
Pickel.
Unsicher
befingerte er die infizierte Pobacke. Die Untersuchung erfolgte
gründlich. Gerade als Erwin erleichtert eine beginnende Eintrocknung
feststellte, ließ ihn das metallene Zuschlagen einer Gartentür
einige Häuser entfernt aufschrecken.
Mit
hochrotem Kopf blickte er um sich. Gleichzeitig ließ ihn ein Stechen
am Herz die Luft anhalten. Die Hand flog aus der Hose zur Brust. Er
versuchte, vorsichtig ein- und auszuatmen. Erst langsam, dann mit
immer tieferen Atemzügen. Das half. Nur noch ein leises Prickeln war
in der Herzgegend zu spüren. Erwin schwitzte in der morgendlichen
Kühle.
Der
Termin beim Internisten stand für übernächsten Mittwoch fest. Nach
dem ersten Ereignis Anfang Januar war dies der dritte Anfall
innerhalb eines halben Jahres. Langsam bekam er Angst.
»Wenn
es kommt, dann aber dicke!« dachte er.
Erst
das Herzproblem, danach der Pickel am Po, jetzt der tote Ori. Das
hätte ihm noch gefehlt, beim Herumfummeln am Hintern erwischt zu
werden! Mindestens zwei Nachbarn hatten einen guten Einblick in
seinen Garten. Davor hatte ihn Frau Kilian hoffentlich rechtzeitig
bewahrt.
Die
schwergewichtige Zeitungsausträgerin übte ihre frühmorgendliche
Tätigkeit alles andere als rücksichtvoll aus. Der Lärm, den die
Müllwerker alle vierzehn Tage machten, war nichts im Vergleich zu
dem Krach, mit dem Frau Kilian in ihrem Austragbezirk unterwegs war.
Die Zeitungen transportierte sie in einem Fahrradanhänger, den sie
hinter sich her zog. Wenn sie schlurfend eine Zustelladresse
erreichte, glitt ihr immer die Deichsel des Karrens aus der Hand. Der
Anhänger schlug scheppernd mit der Vorderkante auf das
Straßenpflaster.
Erwins
Freund Horst, der zwei Straßen weiter wohnte, regte das kaum auf.
»Besser
wie ein Wecker mit Schlummerfunktion«, hatte er Erwin erklärt. Eine
halbe Stunde dauerte es vom ersten krachenden Aufsetzen des Anhängers
bei Erwin im Tulpenweg bis zum Finale vor Horsts Haustür in der
Brüder-Grimm-Straße. Dreizehn Abonnenten, dreizehn Rappelschläge,
einer lauter als der andere. Dann war Zeit zum Aufstehen.
Nebentöne,
wie das Zuknallen von Gartentüren und Briefkastendeckeln,
vervollständigten das Klangereignis, das Frau Kilian den
Dorfbewohnern jeden Morgen, außer Sonntags, bescherte.
Erwin
blickte zu den Nachbarhäusern. Bei allen Fenstern, von denen aus der
Garten einsehbar war, deuteten die geschlossenen Rollos auf tiefen
Schlaf der Hausbewohner hin. Das war beruhigend. Gegenüber seinem
ungeliebten Nachbarn, dem widerlichen Stinkstiefel Hartmut Hass,
wollte Erwin sich keine Blöße geben. Wie konnte er nur so
leichtsinnig sein! Wenn der Hass das beobachtet hätte! Jedes fiese
Grinsen dieses Widerlings könnte ab jetzt: ›Ich habe gesehen, was
du getan hast‹ bedeuten. Das Gespött der Nachbarschaft wäre ihm
sicher. Der Hass war richtig gut im Leute-gegeneinander-aufhetzen.
Erwin
seufzte. Immer den Anstand wahren zu müssen, selbst auf dem eigenen
Grundstück, empfand er als anstrengend. Zum Glück wuchs in der
südöstlichen Gartenecke, neben dem Hasenstall, eine kleine Gruppe
Haselsträucher. Ein schönes Versteck, in dem der Frühaufsteher
nach dem Versorgen der Hasen, hin und wieder seinen Morgenurin
abschlug. Die Brennnesseln wuchsen üppig. An Regentagen roch es ein
wenig wie Salmiak. Niemand ahnte bisher das Geheimnis. So sollte es
bleiben.
Der
Ori. Der war in der Aufregung völlig in Vergessenheit geraten. In
der großen Gartenschubkarre sah der Hase recht mickrig aus. Obwohl
Erwin sich Mühe gegeben hatte, die Hasenleiche stilvoll auf die
Strohunterlage zu legen, gab er keinen schönen Anblick ab.
»So
kann das nicht bleiben! Der muss später beerdigt werden. Dafür
brauche ich einen Sarg.«
Er
ließ die Karre stehen. Zunächst ging er auf der Suche nach
passendem Material für den Hasensarg in die Garage. Das Wandregal
enthielt jede Menge Kisten. Alle voller wichtiger Sachen wie
Schrauben, Farben und Utensilien zur Wagen- und Gartenpflege. Aber
obenauf in der offenen Altpapiertonne lag ein Schuhkarton. Prüfend
nahm er die Schachtel heraus. Die Pappe sah stabil aus. Neugierig
schaute er auf das Markenzeichen: Wanderschuhe von Luigi Askari,
Größe 38.
Erwin
wunderte sich über den Fund. Üblicherweise warf Marga solche Dinge
einfach aus der Küche durch die Verbindungstür zur Garage.
Ordentliches Wegräumen überließ sie gern ihrem Mann, der darüber
nie ein Wort verlor.
»Seltsam.
Was ist denn mit der los? Hat sie ein schlechtes Gewissen oder will
sie was Bestimmtes von mir?« Beinahe wären seine Gedanken in etwas
sexuelles abgerutscht.
In
einem Anflug kreativer Inspiration stieg er die Treppe zum im Keller
hinab. Dort unten hoffte er Besseres als den Schuhkarton zu finden.
Die einfache Pappschachtel schien ihm als Sarg für den kleinen Ori
sehr einfallslos. Eine stabile kleine Holzkiste wäre gut.
Als
Erstes fielen ihm die neuen Flaschen im Weinregal auf. Also war sie
gestern nicht nur wegen der Schuhe einkaufen. Enttäuscht wanderte
sein Blick weiter auf die in der Ecke stehende Bierkiste. Ein
einsames ungeöffnetes Fläschchen inmitten vieler geleerten. Erwin
weitete die Augen. Blinzelte der Kronkorken ihm gerade zu? Kurz
überlegte er, die Flasche Bier sofort hinunterzustürzen. Vielleicht
könnte er mit ein wenig Alkohol das nachher zu erwartende Geheule
der Kinder besser verkraften?
»Nein.
Es reicht, wenn die Alte trinkt!«
Wer
weiß, wieviel ehelicher Frust nach 15 Ehejahren in diesem Satz,
heimlich und ungehört im Keller hervorgestoßen, aus ihm
herausbrach? Tatsächlich war Margas Alkoholgenuss moderat. Eine
Kiste Wein mit 6 Flaschen reichte ihr fast vier Wochen. Erwin trank
fast nichts. Diese Kiste Bier stand seit Silvester unverändert.
Es
war keine Holzkiste da. Statt dessen sah Erwin zwischen den
eingemachten Marmeladengläsern 2 Kisten mit ihm unbekannten Inhalt.
Erwartungsvoll zog er die erste aus dem Regal. Klasse! Darin war der
Christbaumschmuck, in der anderen gebrauchtes Geschenkpapier.
Die
Schuhschachtel wurde zu einem schönen Hasensarg. In der Werkstatt
beklebte er den Karton mit dunkelblauem Geschenkpapier. Ein Stück
silbriges Kreppband, gefunden in der Kiste mit den Weihnachtskugeln,
band er zu einer Schleife und klebte sie auf den Sargdeckel. Den
mittlerweile leichenstarren Ori legte Erwin auf den mit Stroh
ausgelegten Kartonboden.
»Die
Augen sind ja noch offen«, sagte er leise.
»Na,
das dürfen nachher die Kinder machen!«
Margas
übliche Zeit aufzustehen kam näher. Erwin schob den Sarg in ein
Regal, ging in die Küche und deckte den Frühstückstisch. Eine
erste Tasse Kaffee schlürfend, las er die Tageszeitung.
»Morgen,
Schatz!«
Marga
stand im Bademantel hinter ihm, gähnte ausgiebig und küsste seinen
Nacken.
»Gut
geschlafen, Erwin? Du bist so früh aufgestanden.«
Verschlafen
nahm sie gegenüber von ihm am Tisch Platz und füllte ihre Tasse.
Halbgeöffnete Augen blickten zu dem Subjekt ihrer Begierde.
»Weißt
du, woran ich denke?« Sie sprach leise und seltsam tonlos.
Erwin
beugte den Oberkörper nach vorn, vorgeblich, um einen Artikel besser
lesen zu können. Der sinnliche Klang der Frage versetzte ihn in
Alarmbereitschaft. Den dazugehörigen Gesichtsausdruck kannte er zur
Genüge und er hasste ihn. Margas feuchte Zunge fuhr über die
Lippen. Ihr Blick war sinnlich trübe, fast verklärt.
»Bevor
unsere Kinder kamen, sind wir am Wochenende manchmal kaum aus dem
Bett gekommen.«
Erwin
lehnte sich zurück und blickte von seiner Zeitung auf. Wenn er sie
jetzt ignorierte, könnte sie ihm das Wochenende zur Hölle machen.
Das war nichts Neues.
»Bitte
nicht schon wieder!« dachte er.
Die
Lust auf diese Frau war ihm abhanden gekommen. Die Lust auf jede
Frau. Einmal fragte er sich, ob er latent schwul sei, doch Gier auf
Männer war ihm fremd. Er hatte es einfach satt: das ganze Gemache
mit Bumsen, Wichsen und so. Hin und wieder in den Morgenstunden ein
spontaner Samenerguss war Beweis für das Funktionieren der
biologischen Grundfunktionenen. Seine Asexualität war ihm zwar
unerklärlich, er akzeptierte sie aber problemlos. Marga wusste
darüber Bescheid. Trotzdem musste sie wegen der eigenen Sehnsucht
ihren Kerl manchmal auf die Probe stellen. Eine schwierige und
anstrengende Situation. Glücklicherweise beanspruchten die Kinder so
viel Zeit der Eltern, dass die Gegensätzlichkeit der Ehepartner im
Hintergrund schwelte. Meistens. Heute morgen nicht.
»Mami,
der Kevin hat Tusse zu mir gesagt!«
Erwin
stand ruckartig vom Tisch auf, froh über die willkommene Störung.
Miriam kam die letzten Stufen der Treppe hinunter und stürzte in
seine offenen Arme. Marga presste enttäuscht die Lippen aufeinander.
»Wo
ist der Kevin? Ist er in seinem Zimmer?«
Erwin
streichelte seiner Tochter das Haar.
»Ich
rede gleich mit ihm. So etwas soll er nicht sagen. Obwohl…«
Schmunzelnd
nahm er ihren Kopf in die Hände.
»Wenn
du wirklich eine Tussi bist, dann jedenfalls eine sehr süße!«
»Papi!«
Lachend
zog er sie an den Tisch.
»Komm,
iss erst mal was.«
Plötzlich
fiel ihm Ori ein. Die gute Laune war weg.
»Übrigens…ich
war heute Morgen schon am Hasenstall und…«
Misstrauisch
wurde er von Frau und Tochter beobachtet.
»Mein
Gott!«, dachte Erwin. »Ist das schwer!«
Vorsichtig
fuhr er fort:
»Als
ich die Tür öffnete, fiel mir gleich auf, dass was komisch war. Die
Hasen hoppelten alle so aufgeregt herum, und dann sah ich auch den
Grund. Der Ori war gestorben.«
»Nein!«
schrie Miriam.
»Ori
kann nicht sterben! Du hast gesagt, das ist unser Hase, der wird
nicht gegessen! Du Lügner!«
Dicke
Tränen liefen und sie trat nach seinen Schienbeinen.
»Miriam!
Ich habe keine Ahnung, warum der Ori tot ist. Ich bin unschuldig.
Gestern hat er schöne Karotten für die Nacht bekommen, da ging es
ihm sehr gut. Vielleicht hat er einfach einen Herzinfarkt bekommen.
Das kann passieren.«
»Das
sage ich Kevin!«
Miriam
lief auf die Treppe zu, um ihren Bruder zu wecken. Doch Kevin stand
bereits oben.
»Was
ist denn das für ein Krach? Ich wollte noch ein bisschen schlafen!«
»Kevin!
Der Ori ist tot!«
Miriams
Schrei war so laut, dass er vermutlich in der ganzen Siedlung zu
hören war.
»Nein!«
Kevins
Schrei gellte in der Küche.
»Doch!«
Erwins
lauter Ausruf war wie ein Donnerschlag.
»Meint
ihr, ich mache mit so was Spaß? Kommt, ich zeige ihn euch!«
Die
Kinder und Marga folgten ihm in die Garage. Erwin nahm den Hasensarg
aus dem Regal.
»Ist
er da drin?«
Miriams
Stimme war ein leises Flüstern.
Ihr
Vater nickte. Zusammen brachten sie den Karton in die Küche.
Vorsichtig stellte Erwin ihn auf der Tischplatte ab. Die Familie
stand ehrfürchtig um den Tisch und sah gespannt zu, wie er den
Deckel hob. Beim Anblick des toten Hasen fingen die Kinder gleich
wieder an zu heulen. Marga zog Erwin zur Seite.
»Sag«
mal…das ist doch der Schuhkarton von meinen Wanderschuhen? Das hast
du aber gut gemacht!«
Stolz
küsste sie Erwin auf den Mund. Schmunzelnd sagte sie:
»Du
zeigst ja versteckte Qualitäten! Der Sarg ist so schön! Ich hätte
nie gedacht, dass du zu so was fähig bist.«
Das
Lob geschmeichelte Erwin. Er wurde rot und seine Körperhaltung
straffte sich. Er war Tarzan, der Jane aus einer lebensgefährlichen
Situation befreite und dafür die Belohnung bekommt – durch die
Art, wie sie ihn ansieht.
Inzwischen
hatten Kevin und Miriam den Ori aus der Kiste genommen und ordentlich
abgeknutscht. Das Ergebnis war ein nasses, von ihren Tränen
verklebtes Fellbündel. Ori sah aus, als wäre er versehentlich in
der Waschmaschine mitgewaschen worden.
»Kommt,
wir rubbeln ihn ein wenig ab und bringen ihn in den Garten!«
Resolut
nahm Marga die Sache in die Hand.
»Der
Papa kann ja schon mal ein schönes Grab für ihn ausheben! Miriam,
sei so lieb und hol den Föhn aus dem Bad. Damit kriegen wir ihn
bestimmt ganz schnell trocken.«
Während
seine Frau und die Kinder Ori hübsch machten, nahm Erwin einen
Spaten und ging in den Garten. Suchend sah er sich nach einem guten
Platz für die letzte Ruhestätte von Ori um. Die beste Wahl wäre
die Pinkelecke. Davon kam er sofort ab, da er sie liebend gern noch
ein wenig nutzten wollte.
»Auf
ein Grab pinkeln macht man nicht.«
Dort
drüben: die Hecke zu seinem widerlichen Nachbarn Hartmut Hass. Das
könnte gehen.
Der
hieß mit Nachnamen nicht wirklich Hass, sondern Hasenfuß. Seit
einigen Nachbarstreitigkeiten hatte Erwin, insgeheim den Nachnamen
auf »Hass« reduziert. Einmal entfiel ihm der Name in Gegenwart
seiner Kinder.
»Der
Hass hat wieder …« Mit vielen verbalen Verrenkungen war es
ihm gelungen, die Kinder abzulenken.
An
der Ligusterhecke grub er ein kleines Loch. Sicherheitshalber schaute
er mehrmals zum Nachbarhaus hinüber. Sicher schlief der Hass noch.
So fies wie der drauf war, könnte er gewaltig Ärger machen, wenn er
rausbekam, dass unmittelbar an seiner Grenze ein Tierkadaver
verbuddelt war.
»Soll
er doch. Und von wegen: Tierkadaver«, dachte Erwin.
»Das
wird eine richtig schöne Beerdigung für den lieben Ori!«
In
der Kücher sah es aus wie beim Friseur. Überall flogen Fellflusen
herum.
»Guck
mal, Papa! Der Ori sieht sooo süß aus!«
Miriam
zog ihren Vater zum Küchentisch. Erwin war überrascht, wie lebendig
und flauschig der Ori aussah. Nur den an trüben Augen war der Tod zu
erkennen. Die Unterlage aus weißer Watte ließ in ihm das Bild eines
im Wolkenhimmel schlafenden Ori entstehen.
»Wer
hat den schönen Kranz aus Gänseblümchen geknüpft?« Erwin
bewunderte die Blumenkette um Oris Hals. Kevin bekam einen roten
Kopf.
»Das
hast du gut gemacht. Beide habt ihr das gut gemacht. Es ist ein
schönes Himmelbett geworden! «, lobte Erwin. »Jetzt ist aber die
Zeit gekommen, uns von Ori zu verabschieden. Wer will dem Ori die
Augen schließen? Er soll doch so aussehen, als würde er nur
schlafen, wenn er in den Hasenhimmel kommt. Kevin?«
Unter
Tränen schüttelte Kevin den Kopf.
»Darf
ich das machen?«
Marga
trat näher an den Tisch. Niemand widersprach. Liebevoll strich sie
mit der Hand die Augenlider herunter. Als sie die Hand wegnahm und
der Hasenkopf wieder sichtbar wurde, sah es so aus, als ob sich das
Häschen, müde vom vielen Hoppeln, kurz für ein kleines Nickerchen
hingelegt hätte. Allerdings fing er an, etwas aufdringlich zu
riechen. Es war ein Duft, vom Grundton wie ein Karnickelfurz, jedoch
blumiger, süßlicher. Der beginnende Geruch der Verwesung.
Erwin
legte den Deckel auf den Karton.
»Wir
müssen ihn noch zunageln!« meinte Kevin. »Das hab« ich mal im
Fernsehen geguckt, dass man das macht!«
Bevor
Marga überlegen konnte, welche Sendung es gewesen sein könnte,
sagte Erwin: »Das wird mit der Pappe nicht gehen. Ich hole mal den
Tacker aus der Werkstatt.«
Die
Beerdigung wurde sehr schön. Wie im richtigen Leben ging die Familie
mit langsamen Schritten über die Terrasse und den Rasen zu der
vorbereiteten Grabstätte. Kevin und Miriam waren die Sargträger.
Der fleißige Vater musste ein wenig nacharbeiten, weil das Loch viel
zu klein war. Zuletzt durfte jeder mit einer kleinen Schaufel etwas
Erde auf den Deckel werfen und einen letzten Gruß an das Tier
richten.
»Nachher
bauen wir ein schönes Kreuz für ihn, ja?«
Marga
sah Erwin fragend an. Der zuckte nur die Schultern. So ein Gebilde
wäre ein deutliches Signal für den Hass. Aber was sollte er machen?
»Vielleicht
reichen ja auch ein paar Blumen?«
»Nein,
Erwin, das reicht nicht. Die Pflanzen verwelken, doch ein Kreuz wird
uns lange an den lieben Ori erinnern«, sagte Marga bestimmt.
»Ja,
Papi, komm, wir fangen gleich an!«
Miriam
nahm seine Hand und zog ihn zurück zum Haus.
»Langsam!«
mahnte Erwin.
»Lasst
uns erst einmal frühstücken. Ich habe wegen dem Ori fast nichts
gegessen. Haben wir Nougatcreme in der Speisekammer?«
Später
am Tag schmückte ein schlichtes Holzkreuz den kleinen Erdhügel an
der Nachbargrenze. Auf der Querlatte stand, mit einem Lötkolben
eingraviert: »Ori 21.5.2016«.
Sonntag,
morgens
»Bronko!
Komm sofort hierher!«
Hartmut
lief auf dem feuchten Rasen auf den kleinen Terrier zu.
»Was
hast du denn da? Gib das sofort her!«
Erschrocken
über seine laute Stimme blickte Hartmut zum Nachbarhaus. Es war
Sonntagmorgen, kaum 7 Uhr. Bestimmt schliefen alle Nachbarn noch.
Hartmut wollte auf keinen Fall wegen morgendlichem Geschrei Ärger
bekommen. Die nervliche Belastung durch die intime Enge der
Wohnsiedlung machte ihm sehr zu schaffen.
Vom
Leben auf dem Land hatte er sich mehr versprochen. Aufgewachsen in
der Großstadt, war seine frühere Vorstellung vom Dorfleben ein
Ideal. Freiheit, Weite, Abenteuer. Die Realität sah anders aus. In
dieser Wohnsiedlung am Rand von Jesberg, einer kleinen Gemeinde
zwischen Kassel und Marburg, konnte er niemals heimlich eine Stange
Wasser hinter dem Haus abstellen. Oder am Hintern kratzen. Aus
mindestens 5 Häusern heraus lauerten die lästigen Nachbarn auf so
eine Gelegenheit.
Hartmut
war der geborene Miesepeter. Immer unzufrieden. Mit sich, mit seiner
Umgebung. Statt Freude am Erbe seines Onkels zu haben, haderte er oft
mit seinem Schicksal.
›Not
enough room to swing a cat!‹
Der
Spruch aus einem Comic des berühmten amerikanischen Zeichners Robert
Crumb fiel ihm immer ein, wenn er an diese unglückliche Situation
dachte.
»So
einen Hasenstall wie der doofe Erwin müsste ich haben«, überlegte
er.
»Dahinter
lässt sich bestimmt gut abstrullern. Das kann niemand sehen.«
Neidisch
blickte er zum Nachbargrundstück.
Eine
kalte Berührung am Fuß riss ihn aus den Gedanken.
Bronko
saß schwanzwedelnd und hechelnd vor ihm. Die Beute lag auf Hartmuts
nacktem Fußrücken. In einer spontanen Reaktion schleuderte er das
scheußliche Etwas weit weg. Dabei rutschte der andere Fuß auf dem
nassen Rasen aus. Hartmut beobachtete im Sitzen den Flug des
seltsamen Dinges. Bronko flitzte hinterher. Wahnsinn! Der Hund rann
extrem schnell, berechnete die Flugbahn. Rechtzeitig saß er vor dem
Gartenzaun und sperrte das Maul auf, um das Ding zu fangen. Hartmut
entfuhr fast ein Jubelschrei, so sehr begeisterte ihn die Leistung
des kleinen Hundes. Langsam versuchte er aufzustehen. Auf allen
Vieren kniete er im Gras, als Bronko seine Beute dicht vor Hartmuts
Gesicht hin und her schüttelte. Die Besudelung mit ekligen Säften
und feuchten Erdbrocken ließ ihn würgen.
Mühsam
rappelte er sich hoch.
»Zeig,
Bronko! Nein, lass los!«
Hartmut
betrachtete die Beute des Hundes genauer. Eindeutig ein Hasenkadaver.
Mit richtig viel Dreck am Balg. Wo könnte der Terrier das Ding
ausgebuddelt haben? Bestimmt bei dem einzigen Karnickelhalter in der
Siedlung, dem bescheuerten Nachbarn Erwin Klingelhöfer! Hartmut nahm
dem Hund mit zwei spitzen Fingern den Kadaver ab und trug ihn mit
ausgestreckten Arm auf die Terrasse neben den Grill. Hier waren die
teuren Betonplatten durch Fettspritzer total versaut. Da kam es auf
ein paar Flecken mehr nicht drauf an. Bronko sprang aufgeregt um ihn
herum und wollte sich auf den Kadaver stürzen. Hartmut stülpte
einen Eimer darüber und lenkte den Hund mit dem Wegwerfen seines
Lieblingsbällchens ab. Während der Hund glücklich mit dem Ball
spielte, schritt Hartmut prüfend die Grundstücksgrenze ab. Da,
hinter der Ligusterhecke: Aufgewühlter Rasen! Daneben ein primitiv
konstruiertes kleines Holzkreuz!
»Alle
Achtung!«, dachte Hartmut.
»Gibt
es jetzt einen Tierfriedhof in der Siedlung? Der hat eine richtige
Macke, der Erwin. Wie bescheuert ist das denn, irgendein Karnickel
gleich neben meinem Grundstück zu verbuddeln. Der weiß doch genau,
wie empfindlich ich auf solche Verstöße gegen die guten Sitten und
die Missachtung der gesetzlichen Vorschriften reagiere. Wenn ich ihn
anzeige, wandert er in den Knast!«
Er
brachte Bronko ins Haus. Im Arbeitszimmer setzte sich Hartmut an den
Computer, um einen Brief an den Bürgermeister zu schreiben.
Ungeduldig trommelten die Fingerspitzen auf die Tischplatte, bis der
alte Rechner Betriebsbereitschaft anzeigte. Eine knappe Viertelstunde
flogen die Finger über die Tastatur. Beim Buchstabieren des Wortes
»Kadaver« bekam er Schwierigkeiten – und eine gute Idee! Eilig
ging er auf die Terrasse.
Der
tote Hase kam im Eimer in die Küche. Über den Küchentisch breitete
er Plastikfolie und legte die Hasenleiche darauf. Sie stank
fürchterlich.
Mit
einer Wäscheklammer auf der Nase ging es ans Werk. Eine Stunde und
zwei Schnäpse später lief er um den Tisch und bestaunte das
Ergebnis von allen Seiten. Der Hase sah aus wie das blühende Leben.
Gewaschen, getrocknet, gebürstet, gekämmt. Mit dünnem, fast
unsichtbarem Gartendraht versteift, hockte der Hase auf den
Hinterläufen und machte »Männchen«. Nur die offenen, trüben
Augen passten nicht zu dem Gesamtbild karnickeltypischer Vitalität.
Aber sonst… Hartmut war verdammt stolz auf sich.
Gut
gelaunt summte er ein Liedchen und peilte von der Terrasse aus die
Lage. Draußen war alles ruhig. Sonntags kam sein Nachbar selten vor
9 Uhr aus dem Haus um seine Hasen zu versorgen.
»No
risk, no fun!«
Hartmut
schnappte den Hasen vom Küchentisch. Kritisch sah er der Leiche in
die toten Augen. Wo waren denn die LED-Leuchten der kaputten
Kerzenkette?
Sonntag,
vormittags
Verschlafen
bemühte Erwin sich aus dem Schlafzimmer in die Küche. Was war das
Gestern für ein beschissener Tag! Erst der tote Ori, dann die
deswegen traurigen Kinder, die den ganzen Tag richtig genervt hatten,
abends eine weintrunkene Marga, die ihm die Ohren wegen seiner
Nichterfüllung ehelicher Pflichten vollheulte. Vor lauter Frust
hatte er bis in die Nacht diverse Horrorfilme gesehen. Gegen seine
Gewohnheit trank er 3 Flaschen Bier aus einem Sixpack von der
Tankstelle. Ungewöhnlich spät war er an diesem Sonntagmorgen
aufgestanden. Mittlerweile musste es mindestens 10 Uhr sein. Im Haus
war es ruhig.
Mit
einer Tasse Kaffee ging er in den sonnendurchfluteten Garten, um die
Kaninchen zu füttern. Von der Terrasse aus sah er die Tiere
aufgeregt sein Kommen erwarten. Es war richtig Stimmung in der Bude.
»Wenn
heute wieder einer über Nacht verreckt ist, falle ich tot um«,
sprach er leise vor sich hin, als er sich dem Hasenstall näherte.
Beim
Anblick des wiederauferstandenen Ori, der gleich hinter der
Maschendrahttür hockte, das Mäulchen anklagend aufgesperrt, die
gelben Schneidezähne gebleckt, die Augen grell blitzend, verengte
sich seine Brust.
Nach
einem schnellen Seitenblick zu Oris Grab – es sah aus wie von innen
heraus aufgebrochen – kam der zweite und letzte kalte Griff an das
Herz. Beim Aufschlag seines schweren Körpers auf den Boden hatte ihn
das Leben bereits verlassen.